Lemmings Himmelfahrt
da sitzen, bieten die beiden ein Bild der vollkommenen Freundschaft. Dass sich Barmherzigkeit und Hingabe ausgerechnet an diesem Schauplatz, zu dieser Uhrzeit offenbaren, verleiht dem Bild etwas Poetisches. Es erinnert an einen sprießenden Grashalm auf dem Mittelstreifen der Autobahn, an einen Schmetterling auf dem Fenstersims der Gefängniszelle. Not und Hoffnung miteinander vermählt, so ist es gut. So soll es sein. So soll es aber nicht bleiben.
Unvermittelt hebt der Fremde die Hand und gebietet dem Lemming Einhalt.
«Ende der Sitzung», sagt er in aller Ruhe. Er steht auf, ergreift die inzwischen geleerte Flasche und schlägt sie in kurzen Abständen gegen die Tischkante, um sich ringsum Gehör zu verschaffen. Es wird wieder still im Raum. Der Vorhang hebt sich zum zweiten Akt. Der Fremde beginnt zu sprechen, und er tut es direkt über den Kopf des Lemming hinweg, als sei dieser Luft für ihn.
«Damen und Herren, liebe Freunde, entschuldigts bitte, aber ich muss etwas loswerden. Es wird euch nicht entgangen sein, dass mich vorhin das heulende Elend heimgesucht hat, ein beleidigtes Leberwürstel an meinem Tisch, das ich gar nicht bestellt hab, oder, Herr Franz?»
Der Kellner, der müde an einem Stuhl in der Ecke des Raums lehnt, zuckt die Achseln.
«Mir scheint», fährt der Hagere fort, «es sitzt noch immer da, das Würstel, aber ich kann’s nimmer anschauen, weil sonst muss ich mich anspeiben. Warum ich euch das erzähl? Als warnendes Beispiel quasi und weil so ein fauliger Schas für mich allein zu viel ist. Also, ganz kurz, damit ihr auch was davon habts: Seine Alte lasst sich grad ordentlich durchpudern, draußen in Ottakring, derweil er herumlauft und jammert und anderen Leuten den Whisky wegsauft. Sie pudert, er sudert. Was? Ihr fragts euch, wie der überhaupt zu einer Freundin kommt? Ganz einfach: Sie ist Tierärztin, und er ist ein Ochs. Ja, ehrlich, er ist ein Bulle gewesen, bevor man ihn kastriert hat. Na, wenigstens hat ihm die Frau Doktor seine Hörner wieder aufgesetzt … Momenterl! Nein, Wallisch, dableibst! Nicht weglaufen …»
Der Lemming hat sich von seinem Stuhl erhoben, ohne dabei deutlich an Größe zu gewinnen, und wankt dem Ausgang entgegen. Seine Hände fahren durch die rauchgeschwängerte Luft wie die eines Blinden, suchen Halt, finden ihn an einem Kleiderständer und reißen das Möbel zu Boden. Strauchelnd, halb auf den Knien, erreicht er die Tür. Das Publikum zeigt sich nun endlich amüsiert: Die unwidersprochene Behauptung, dass der Lemming früher Polizist gewesen sei, hat jeglichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Exekution ausgeräumt, und so geht die allgemeine Befangenheit nach und nach in befreites Gelächter über.
«So wart doch, Poldi! Ich bin noch nicht fertig!» Beflügelt von den ermunternden Zurufen der anderen Gäste, läuft der hagere Unbekannte seinem Opfer hinterher, als sei er gerade vom Henkersknecht zum Kaiserjäger befördert worden.
Die Menschen kennen viele Gründe, um sich von einem Punkt zum anderen zu bewegen, und sie tun es oft und mit insektenhaftem Eifer, aber ihr häufigstes und zugleich abwegigstes Motiv für einen Ortswechsel heißt:
Einfach nur fort.
Wer dagegen in sich ruht, ruht hier genauso gut wie dort in sich, er schweift mit dem Geist statt mit dem Leib, besitzt nur selten ein Wochenendhäuschen und verbringt seinen Urlaub nie und nimmer auf Mallorca. Schamanistische Sublimation, spirituelle Ubiquität, das ist es, woran es dem Lemming in diesen bitteren Minuten mangelt. Und so trägt er einfach nur seinen Körper fort, fort vom
Café Dreher
, und schleppt ihn die Straße entlang wie ein Reptil seinen Rumpf auf weichem Asphalt.
«Jetzt wart doch! Komm zurück! Glaubst, ich erwisch dich nicht?»
Der Lemming beschleunigt seine Schritte. Ohne sich umzudrehen, überquert er die Fahrbahn, um hinter den Marktständen auf der anderen Seite Schutz zu suchen. Er taucht in die lange Zeile zwischen den Kiosken und eilt, so rasch ihn seine Beine tragen, stadtauswärts. Die Corrida hat vorbei zu sein, wenn das verwundete Rindvieh aus der Arena flieht. Was aber noch nicht heißt, dass es dem Gnadenstoß des Matadors entkommt …
«Glaubst, ich erwisch dich nicht, du Hosenscheißer, so wie du meinen Bruder erwischt hast?»
Der Ruf des Verfolgers erreicht seine Ohren nur durch einen dichten Schleier. Noch bevor die Worte Bedeutung annehmen, um auf den Grund seines Bewusstseins zu sinken, biegt der Lemming in den engen Durchgang
Weitere Kostenlose Bücher