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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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bin, so denkt der Lemming jetzt, dann kann das nur eines bedeuten: Es geht hier nicht allein um Robert Stillmann. Es geht um die ganze Familie   … Hinter dem Liftschacht führt eine breite, geschwungene Treppe hinab in den Keller
Walhalls.
Noch liegt sie im Dunkel, verschwindet nach wenigen Metern in undurchdringlicher Finsternis. Kaum aber nähert sich der Lemming der obersten Stufe, flammen Halogenlampen auf, modernes Leuchtwerk, kalt und bewegungsgesteuert. Der Lemming atmet durch, geht zögernd weiter. Lautlos bewegt er sich jetzt, steigt lauernd in die Tiefe, hält hie und da inne, lauscht mit verhaltenem Atem. Es dauert Minuten, bis er den unteren Absatz erreicht, Minuten, die ihm wie Stunden erscheinen. Jetzt beugt er sich vor, späht um die Ecke: Ein lang gezogener Gang erstreckt sich nach links, schmucklos und glatt, eine nackte Betonröhre, in deren Wände mehrere stahlgraue Türen eingelassen sind. Die letzte, hinterste dieser Türen scheint einen Spaltbreit offen zu stehen: Dort fällt mit blassem Schimmerein Lichtstreif auf den Boden. Auch lässt sich inzwischen ein fernes Geräusch vernehmen, ein rhythmisches Brummen und Stampfen, das mit jedem Schritt näher rückt, lauter und drängender wird. In Zeitlupe schleicht der Lemming den Gang entlang, wachsam, achtsam, die Sinne gespannt bis zum Äußersten. Blickt sich ein letztes Mal um, zieht dann die Tür noch ein Stück weiter auf und schlüpft ins Licht.
    Ungedämpft dröhnt jetzt das stampfende Geräusch in seinen Ohren, schallt durch die niedrige Halle, die vor ihm liegt. Es ist die Wäscherei, kein Zweifel. Eine Vielzahl seltsamer Objekte steht über den ausgedehnten Raum verteilt, einige fremd, manche vertraut, andere fremd und vertraut zugleich. An der rechten Seite des Eingangs ragen fünf große, mit Rädern versehene Tonnen auf, Behälter für Schmutzwäsche, wie ein rascher, fiebriger Blick in jede davon bestätigt. Gegenüber sind mehrere Tische im Boden verankert, dazwischen einige Bügelbretter und zwei breite, hüfthohe Pulte, auf denen dicke, mit Stoff bespannte Metallwalzen ruhen. Sie erinnern ein wenig an Druckerpressen, und sie dienen anscheinend einem ähnlichen Zweck: Es sind elektrische Wäschemangeln, wie der Lemming vermutet.
    Er wagt sich nun weiter in den Raum hinein, spähend und lauernd, immer auf Deckung bedacht. Aber trotz des Lichts, trotz des Lärms ist kein Mensch zu sehen. Und dann fällt sein Blick auf die Waschmaschinen.
    Der Lemming hat nicht gewusst, dass es Waschautomaten wie diese gibt. Riesig wie Kleiderschränke türmen sie sich vor ihm auf, drei sind es, die ihn bei weitem überragen, gravitätische Kolosse, chromblitzend, wuchtig und schwer. Vor allem der mittlere ist von gigantischer Größe, ein wahrer Titane der Reinigungskunst, ein stählernes Schlachtschiff, nur dass sich bei ihm das Wasser im Inneren befindet.
    Und nicht nur das Wasser   …
    Nestor Balint braucht keine Handschuhe mehr. Seine Hände sind wohl noch nie so sauber gewesen. Weiß und schwammig, so kleben sie innen am gläsernen Deckel der Waschmaschine, und zwischen ihnen klebt Nestor Balints Stirn, seine Oblatenstirn. Und seine großen, von allem Schmutz dieser Welt gereinigten Augen. Nestor Balint ist eben erst fertig geschleudert worden. Die Trommel, in der, von schneeweißen Laken umhüllt, sein Körper steckt, kommt langsam zur Ruhe, und ruhig wird es jetzt auch im Keller
Walhalls.
    Nestor Balint ist für immer entschlafen, und auch den Lemming befällt eine plötzliche, lähmende Müdigkeit. Alt fühlt er sich, unendlich alt. So alt, dass ihm das, was ihm gerade widerfährt, wie ein Erlebnis aus früheren Zeiten vorkommt, wie ein Erinnern, eine Rückschau auf sich selbst. Schon einmal, denkt er, hat es zwei gefälschte Briefe gegeben, schon einmal ein Rendezvous mit einem Toten. Mir nur, mir allein gelingt das zweifelhafte Kunststück, in eine altbekannte, längst vertraute Falle zu tappen   … Der Lemming weiß, was jetzt geschehen wird. Er sieht es so deutlich vor sich wie Nestor Balints verschrumpelte Fingerkuppen hinter dem Bullauge. Er wird versuchen, die Flucht zu ergreifen, und diese Flucht wird nach wenigen Metern zu Ende sein. Nicht anders als die einer Maus im Versuchslabor. Schon einmal, denkt er, bin ich anstelle des wirklichen Mörders verhaftet worden   …
    Der Lemming muss es wenigstens probieren; er kann nicht anders, als den Rückzug anzutreten. Aber er tut es ohne Eile, schwunglos und phlegmatisch wie ein

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