Lemmings Himmelfahrt
Linie, die nicht an einen rechten Winkel stößt; selbst die Bücher im Regal sind penibel nach Größe und Farbe geordnet; ihre Rücken schließen exakt mit der Kante des Bücherbords ab. Grocks Zimmer ist absolut ausdruckslos, ein Isolationstank. Es ist ein Raum wie der Mann, der ihn bewohnt. Ein Raum ohne Eigenschaften …
Vielleicht, so denkt der Lemming, während er betreten den Blick schweifen lässt, vielleicht ist aber gerade das Gegenteil der Fall: Inneres Chaos, innerer Aufruhr dürstet nicht selten nach äußerer Ordnung. Vielleicht ist ja Grock, der sich inzwischen, stumm wie ein schüchterner Gast im eigenen Haus, auf einem Stuhl in der Ecke des Zimmers niedergelassen hat, in seinem Innersten ein brodelnder Vulkan …
«Darf ich?» Der Lemming wartet vergeblich auf Antwort. Setzt sich schließlich auf einen der beiden Fauteuils, die Seite an Seite vor dem gläsernen Couchtisch stehen. Räuspert sich, hüstelt …
Fremde Sprachen ebnen Wege in die Welt
. Eine Parole, die ihm in diesem Fall schwerlich weiterhelfen wird. Wie also beginnen?
Am besten mit der Wahrheit. Was soll schon Schlimmeres passieren, als dass er unverrichteter Dinge das Feld räumt, weil sich Buchwiesers Ass, Buchwiesers Trumpf als Niete entpuppt? Der Segen ist in diesem Fall die Crux: Geheimnisse jeder Art scheinen bei Grock gut aufgehoben zu sein …
«Ja also …», murmelt der Lemming. «Danke, dass Sie mich um diese Zeit … dass Sie mich noch empfangen …»
Keine Reaktion. Grock sitzt aufrecht, aber mit gesenktem Kopf auf seinem Sessel, die Hände zwischen den Oberschenkeln vergraben.
«Ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche. Ich weiß nur leider nicht, auf welche Weise man mit Ihnen … vielleicht können Sie es mir … sagen?»
Stille.
«Es ist nicht leicht, mit Ihnen zu reden …»
Der Lemming seufzt.
«Also will ich mich kurz fassen. Ich stecke furchtbar in der Klemme und weiß nicht mehr weiter. Es geht um eine Sache, die vorgestern in der Stadt passiert ist … am Naschmarkt – vielleicht haben Sie ja schon davon gehört? Egal. Jedenfalls … Ich war zufällig Zeuge, wie jemand … wie jemandem etwas zugestoßen ist. Jemandem, den Sie kennen …»
Schweigen. Grock zeigt nicht die geringste Reaktion.
«Er war Pfleger hier
Unter den Ulmen
… Vorgestern ist er … ermordet worden … Sein Name war Ferdinand Buchwieser …»
«Ich finde es wunderbar …»
Leise dringen die Worte aus der Ecke, schweben durch den Raum, finden keine Fuge, keine Spalte, in der sie sich verkriechen könnten, hallen von den nackten Wänden wider und fangen sich in den Ohren des Lemming.
Ich finde es wunderbar …
Es braucht seine Zeit, bis die Bedeutung des Satzes in sein Bewusstsein dringt. Entgeistert starrt er den kleinen Autisten an, dessen Körper inzwischen in Schwingung geraten ist und in kurzem, raschem Gleichmaß vor- und zurückpendelt.
«Sie … Sie finden das wunderbar? Warum finden Sie das wunderbar?»
Keine Antwort. Nur das stetige Pendeln lässt darauf schließen, dass sich Grock im Bereitschaftszustand befindet.Unwillkürlich muss der Lemming an seine schon lange gestorbene Großmutter denken, an ihren alten Druckkochtopf, der, je nach Wochentag mit Gulasch oder Tafelspitz gefüllt, auf dem Gasherd in der kleinen Küche stand. Von Zeit zu Zeit, wenn der Druck im Bauch des Kessels die kritische Grenze überstieg, hob sich ein winziger roter Knopf in der Mitte des Deckels, und ein helles, durchdringendes Pfeifen ertönte. Fest verschlossen, blank poliert und undurchschaubar, ein schlafender Vulkan eben: So ein Mann scheint Grock zu sein.
«Er ist also», spricht der Lemming nun weiter, «erschossen worden. Aber nicht von mir, wie manche denken. Sondern von einem
Ulmen-
Patienten …»
Das bin ich ja nun auch, fährt es ihm augenblicklich durch den Kopf.
«Ich meine, von einem anderen Patienten, einem, der schon länger hier ist. Es war Nestor Balint, der im …»
«Rinnsal tobte …», beendet Grock den Satz.
Grabesstille breitet sich aus. Stille auch im Hirn des Lemming, dessen graue Zellen gleichsam die Luft anhalten. Langsam nur, äußerst langsam schälen sich zwei Gedanken aus dem plötzlichen geistigen Vakuum. Zwei Gedanken, die spürbar im Widerstreit stehen …
Woher kann er das wissen?, lautet der eine. Wer hat ihm das erzählt?
Die andere Überlegung bleibt jenseits der Grenzen der Greifbarkeit. Sie ist nicht mehr als eine
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