Lemmings Himmelfahrt
unterbezahlter Komparse. Er kennt das Drehbuch bereits, das Drehbuch des dritten Mannes, des großen Unbekannten, des Richters und Marionettenspielers, mit einem Wort: des Jokers …
Falls es diesen Gott überhaupt gibt, ist er der grausamste, widerwärtigste Zyniker, den man sich vorstellen kann …
Und ja: Die Tür zum rettenden Flur ist versperrt.
Der Lemming wartet.
Lange wird es wohl nicht dauern, eine viertel, eine halbe Stunde vielleicht. Dann werden sie kommen, um ihn zu holen. Der große Unbekannte wird natürlich nicht dabei sein; er wird sich seine Inszenierung aus sicherer Entfernung ansehen, feixend und selbstgefällig, ein rundum zufriedener Gott. Würde er dem Lemming nach dem Leben trachten, er hätte genügend Gelegenheiten gehabt. Er hätte ihn nicht hier eingeschlossen. So ist es freilich bequemer für ihn: zwei Morde, ein Sündenbock, den er der Polizei auf dem Silbertablett präsentiert und der zu allem Überfluss im Anzug seines letzten Opfers steckt. Nein, der Lemming fürchtet nicht um sein Leben, noch nicht …
Ziellos wandert er auf und ab, durchstreift den Raum auf der Suche nach einer Idee. Kurz überlegt er, Balints aufgeschwemmte Leiche aus der Waschmaschine zu zerren, sie irgendwo zu verbergen, in einer der Schmutzwäschetonnen vielleicht. Er verwirft den Gedanken: Es gibt hier unten kein Versteck, jedenfalls keines, das einer Überprüfung standhielte, und sei sie auch noch so schlampig durchgeführt. Außerdem tut ihm Balint Leid. Sein Körper ist schon geschändet genug. Sein Geist, nebenbei, war es nicht minder …
Grübelnd bleibt der Lemming stehen, vergräbt die Hände in den Taschen des Schlafrocks. Da stößt seine Rechte an einen Gegenstand, zuckt kurz zurück, betastet dann skeptisch das harte, eckige Ding: Die kleine schwarze Bibel ist es, die er heute Morgen im Schrank des Geigers gefunden hat. Wie passend, denkt der Lemming mit bitterer Miene, jetzt kann ich ihm auch noch die Totenmesse lesen: ein feines, ein sauberes Seemannsbegräbnis im Miniaturformat …
Er zieht die Bibel heraus, fängt an zu blättern. Er sucht aber keine geeignete Stelle für Balints Requiem, er sucht etwas anderes.
Gabriel
, schlägt er im Register nach,
Erzengel
. Und dannliest er, der Lemming, rezitiert leise murmelnd, was ihm das Buch der Bücher in dieser schweren Stunde zu sagen hat.
«Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott zu einer Jungfrau gesandt … Sie war mit einem Mann verlobt … Der Engel trat bei ihr ein … Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären … Der Heilige Geist wird über dich kommen … Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden …»
Der Lemming lässt die Arme sinken. Noch klingen die Worte in seinen Ohren nach, als sich bereits der Verdacht in ihm regt, ein Verdacht, der so furchtbar, so abgründig ist, dass sich die Vorstellung weigert, ihn mit Bildern zu versehen. Die Gedanken lehnen sich auf, sträuben sich gegen sich selbst, sogar der Magen fängt nun an zu rebellieren: Leise steigt Übelkeit hoch. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will: Die kurze Bibelstelle fügt alles zusammen, ordnet das Chaos; sie ist der Paukenschlag in einer scheinbar wirren Symphonie.
«Der Heilige Geist», flüstert der Lemming, «ist keine Taube … sondern ein Kuckuck … natürlich … ein Kuckuck …» Er dreht sich um und läuft zur Tür zurück. Rüttelt wie wild an der Klinke. Es muss einen Weg hier hinaus geben. Er
muss
, und zwar sofort, mit Rebekka Stillmann, Roberts Frau und Simons Mutter, sprechen.
24
Kein Ausweg. Keine Rettung. Im Gegenteil, der Heilige Geist hat ihm den Teufel höchstpersönlich in sein unterirdisches Verlies geschickt.
Vor zwei Minuten noch hat er vor der verriegelten Tür gestanden, hat verzweifelt versucht, die Messingbeschläge zu lockern, jetzt drückt sich der Lemming zitternd an die Wand,verborgen –
noch
verborgen – von der hintersten der drei mächtigen Waschmaschinen. Jetzt ist es so weit: Jetzt fürchtet er um sein Leben …
Er weiß nicht mehr, was zuerst durch das Schlüsselloch gedrungen ist: War es der herbe Geruch der Virginia? Das saure Aroma von Kognak und billigem Aftershave? War es das Knarren des schweren Ledermantels? Oder doch der Klang der altbekannten, wohlvertrauten Stimme, dieser heisere, breite, verächtliche Klang, den der Lemming schon vor Jahren zu hassen gelernt hat? Er weiß es nicht mehr. Es ist auch
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