Lemmings Himmelfahrt
erweitern. Das Haupttor mag ja verriegelt sein, das Gelände der
Ulmen
ummauert; dennoch ist es viel zu groß, um die Fahndung allein zu bewältigen. Außerdem muss Krotznig damit rechnen, dass der Lemming trotz allem einen Weg aus der Klinik gefunden hat. Es gilt also, die Zufahrtswege abzusperren, den Wald zu durchforsten und schließlich, eins nach dem anderen, die Gebäude zu inspizieren. Wenn überhaupt, dann wird sich die Suche erst spät auf den abgelegenen Pavillon konzentrieren. Ein perfekter Unterschlupf also, kurzfristig sicher – und trocken.
Einige wenige Schritte bringen den Lemming nun dahin, wo seine Krankengeschichte am Donnerstagmorgen begonnen hat: vor Robert Stillmanns Zimmer. Und das, so wird ihm mit einem Mal bewusst, ist ein weiterer Grund für die Wahl seines Zufluchtsorts: Er hat das Gefühl, der Lösung des Rätsels hier ein Stück näher zu sein. Blitzartig kehrt nämlich jetzt die Erkenntnis zurück, die Erkenntnis, die ihm NestorBalints schwarze Bibel vorhin im Keller beschert hat. Dieses widerliche Bild, das ihn hart an den Rand des Erbrechens brachte, obwohl es sich doch nur aus einzelnen, scheinbar harmlosen Puzzlesteinen zusammensetzt: ein König, Robert genannt. Eine Dame, die Rebekka heißt. Ein Bub namens Simon. Gabriel, der Engel der Verkündigung. Und schließlich der Heilige Geist, der ein Kuckuck ist. Ein Gott, der seine Eier in fremde Nester legt …
Robert Stillmanns Zimmer liegt fast zur Gänze im Dunklen. Nur ganz hinten, über dem Betthaupt, leuchtet ein kleines Nachtlicht an der Wand und wirft seinen fahlen Schimmer auf eine Szene, die der Lemming sein Leben lang nicht mehr vergessen wird.
Am Fußende des Bettes steht Grock. In seinem weiten grauen Anzug steht er da wie ein stummer Diener, den Kopf gesenkt, zu einer tiefen Verbeugung erstarrt. Über dem linken, abgewinkelten Arm hängt ein triefender Regenschirm, den rechten hält er weit von sich gestreckt, als wolle er seinem Gegenüber die Hand reichen. Es ist aber keine Hand, die er berührt. Robert Stillmanns Fuß ist es, der starr und weiß unter dem Laken hervorragt. Grock steht völlig bewegungslos. Kein Wippen, kein Pendeln bewegt seinen schmächtigen Körper; selbst die Ankunft eines Dritten scheint ihn nicht zu irritieren.
Der Lemming tritt näher, ohne den Blick von den beiden Gestalten zu lassen. Noch kann er sich nicht erklären, was er da sieht; viel zu grotesk, zu gespenstisch und unerwartet ist dieses Bild, als dass es auf Anhieb zu deuten wäre. Stillmann und Grock: zwei versteinerte Wesen, deren eines die Zehen des anderen zwischen den Fingern hält …
Und dann ertönt die Stimme des kleinen Autisten, fast lautlos, ein kaum zu erlauschendes Flüstern. Wenige Sätze nursind es, die er sagt; «Rosinenbrot» kann der Lemming hören und «Schafhändler» und etwas wie «lästige Talfahrt» … Der Rest erreicht seine Ohren nicht. Es ist auch egal: Er wäre sowieso nicht in der Lage, den Sinn der Worte zu entschlüsseln, ohne Stift und Papier und lange Stunden der Kontemplation …
Dennoch beginnt es dem Lemming nun langsam zu dämmern. Es ist keine jähe Erleuchtung, die ihn abrupt überkommt, sondern ein zähes, mühsames Ringen zwischen Erfahrung und Einsicht, Vernunft und Verstand:
Es kann nicht sein,
sagt die Vernunft.
Es kann nicht anders sein
, sagt der Verstand.
Es ist Unsinn
, sagt die Vernunft.
Es ist, was es ist
, sagt der Verstand. So kämpfen sie eine Weile miteinander, die Erfahrung beißt sich an der Einsicht fest wie ein spießiger Vorstadtköter an der Hose des Briefträgers, aber am Ende siegt doch der Weitblick, der Durchblick, die Scharfsichtigkeit. Es kann nicht anders sein, beschließt der Lemming. Es ist, was es ist.
Grock und Stillmann
reden
miteinander. Vom Schicksal betrogen, entrechtet von ihrer Natur, jeder auf andere Weise zu endloser Einsamkeit verdammt, sind sie doch auf eine gemeinsame Sprache gestoßen. Wahrscheinlich haben sich ihre Sinne gerade aus diesem Grund füreinander geöffnet: Sie sind sozusagen Verwandte im Geist, sie sind vom gleichen Schlag; sie wissen, was es bedeutet, für immer verschüttet und in sich selbst eingekerkert zu sein. Ihre einzige Stärke ist ihre Geduld, ihre einzige Habe die Zeit, die sie brauchten, um ihre Frequenzen in Einklang zu bringen, als wären sie zwei Sträflinge in Einzelhaft, die heimliche, nur füreinander bestimmte Botschaften an die Leitungsrohre klopfen.
Wie oft mag Grock wohl in den Siegfried-Pavillon
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