Lemmings Himmelfahrt
um sicherzugehen.
Ja.
Nun fängt die gleiche Prozedur von neuem an. Ein
O
und ein
E
sammelt der Lemming noch ein, dann ein weiteres
T
, bevor er versucht, das begonnene Wort auf eigene Faust zu ergänzen.
«T … O … E … T … Töten? Tötung?»
Nein.
«Töte?»
Ja.
«Töte also …»
Zittrig klingt die Stimme des Lemming, der sich jetzt kurz vor der großen Enthüllung wähnt. Wen auch immer Robert Stillmann töten lassen will: Es muss sich um den großen Unbekannten handeln. Einige wenige Buchstaben noch, ein Name nur …
«M … I … C … Michael?»
Nein.
Der Lemming verstummt. Er will es nicht sagen. Er will nicht. Doch da ist niemand, der es an seiner statt könnte.
«Töte mich …», flüstert er schließlich.
Ja.
«Aber ich … Ich kann nicht … Ich kann das nicht … Verlangen Sie das bitte nicht von mir …»
Gern würde er jetzt seine Hand zurückziehen, das empfindliche Band zerschneiden, das ihn mit Stillmann verbindet, und so tun, als sei gar nichts gewesen. Er möchte das Tor zur Hölle, in die er gerade geblickt hat, verschließen – von außen, versteht sich. Sein Gewissen verbietet es ihm.
«Denken Sie doch an morgen … Ihre Frau kommt sicher zu Besuch … Stellen Sie sich vor, wenn sie erfährt … Sie können wieder mit ihr reden, nach all der Zeit …»
Nicht die geringste Bewegung. Stillmann hüllt sich in Schweigen.
«Wollen Sie mir … noch etwas sagen?»
Ja.
«Gut. Dann fangen wir an … A … B … C …»
Eine Viertelstunde später kristallisiert sich der nächste Satz aus dem Letterngeflecht. Ein Satz, so lapidar und trocken wie ein Telegramm: Robert Stillmann hat das Verbum weggelassen, wahrscheinlich um Kräfte zu schonen und Zeit zu sparen.
«Simon – nicht – mein – Sohn …»
Benommen öffnet der Lemming die Augen. Stützt sich mit seiner freien Hand aufs Bettgestell. Jetzt, da er das Gehörte, nein, das Gefühlte laut ausspricht, wird er wieder von Übelkeit befallen. Er hat es geahnt, und seine Ahnung hat sich bestätigt.
«Herr Stillmann … Ihre Frau, Rebekka … Weiß sie es?»
Zweimal zuckt Stillmanns Zeh.
«Aber wie? Wie ist das passiert? Und vor allem: Wer? Wer ist das gewesen? Wer hat Ihnen das angetan? Ihnen und Ihrer Frau?»
Der Lemming schickt einen Hilfe suchenden Blick nach hinten, zu Grock, als könne ihm dieser auf rascherem Weg die Lösung verraten. Aber der kleine Autist ist verschwunden, hat irgendwann lautlos das Zimmer verlassen, das Feld geräumt, das nun ein anderer pflügt.
Und in diesem Moment wird es dem Lemming schlagartig klar. Grock
hat
die Lösung schon verraten. Klar und deutlich hat er es gesagt …
Robert leidet …
28
«Ganz ruhig, Herr Wallisch. Drehen Sie sich um und machen S’ keinen Blödsinn.»
Die Stimme kommt von der Tür her. In der Tür steht ein Schatten. Inmitten des Schattens blitzt etwas auf.
Die Stimme hat der Lemming zuerst erkannt. Dann den Schatten, diese hagere Figur, deren Kopf die Lichter des Flurs mit einer roten Korona umhüllen. Schließlich den glänzenden Gegenstand in seiner Hand: Auch er ist dem Lemming vertraut.
«Odysseus passt, finde ich, besser zu Ihnen: Sie sind schon ein Held … Schmuggeln sich hier herein wie im Trojanischen Pferd, bezirzen unsere schöne Zauberin unten im Pförtnerhaus, steigen sogar in Herrn Stillmanns ganz privaten Tartaros hinunter … Bravo, Herr Wallisch. Ich bin selbst erst vorhin drauf gekommen, obwohl ich das Leck in Roberts System zwei Wochen lang gesucht hab … Ein Blick durchs Fenster, und da steht er, der kleine Herr Grock, unser Talkmaster, undpräsentiert mir die Lösung … Das hätte ihm niemand zugetraut …
Niemand
, also Sie, Herr Odysseus. Und natürlich der Buchwieser … Danke jedenfalls, dass Sie mich hergeführt haben …»
Jetzt tritt er näher, der Schatten, bis ihn der blasse Schein der Wandlampe erfasst und in ein glitzerndes Dreigestirn verwandelt: Oben funkeln die Augen, unten, in seiner Hand, schimmert die silberne Damenpistole vom Naschmarkt.
«Ganz ruhig …»
Die Lachfältchen um Dieter Toblers Augen vertiefen sich. Ein beruhigendes, gütiges Lächeln.
«Danke, dass Sie mir die Waffe zurückgebracht haben. Ich hab sie dem Herrn Balint eigentlich nur leihweise überlassen, aber er war, scheint’s, zu durcheinander, um besser darauf Acht zu geben … Egal. Hauptsache, der Herr Balint hat erledigt, was er
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