Lemmings Himmelfahrt
kleines falsches Lächeln und große falsche Worte …
Heute wundert es mich, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Aber damals brauchte ich Jahre, um mich von meinem Rückschlag zu erholen. Trostlose Jahre, in denen ich willenlos dem Weg folgte, den die Gesellschaft für mich vorgesehen hatte: Ein Ameisenstaat ist die Summe der ihm ergebenen Ameisen. Sie dienen einem Komplex, der in erster Linie dazu taugt, die fette Königin zu mästen, die dafür die Schar ihrer Sklaven vermehrt. Ein lachhafter Kreislauf und zugleich ein perfektes Sinnbild der Menschenwelt: Der Mensch, so sagt man, braucht einen
Beruf
. Das heißt, er muss seine
Berufung
so lange verstümmeln, bis sie zum
Beruf
verkommt. Ich tat in all der Zeit nichts anderes. Zwar lernte ich weiter, aber ich tat es brav, konformistisch und ohne Freude. Die Lust am Spielen war mir vergangen; ich war dabei, eines von ungezählten Rädchen im Getriebe zu werden.
Die heilsame, reinigende Wahrheit, die mich wie Phönix aus der Asche steigen ließ, offenbarte sich so plötzlich, so überraschend wie damals, als ich neun Jahre alt gewesen war. Nun, mit dreiundzwanzig, erschuf ich mich ein weiteres Mal aus mir selbst.
Nicht anders als damals bedurfte es allerdings eines Anstoßes, einer roten Ampel gewissermaßen, also einer Gelegenheit, die, wie man so sagt, Diebe macht.
Ein junger Mann trat in mein Leben, ein unausgegorener Menschenfreund wie tausend andere in seinem Alter, und dann eine Frau, die schon fast eine Heilige war: Sie bewachte das Feuchtbiotop zwischen ihren Beinen, als sei es die Schatzhöhledes Ali Baba, und sie wäre vermutlich wirklich als Heilige gestorben, wäre ihr der erwähnte junge Mann nicht begegnet. Die zwei schienen füreinander geschaffen zu sein: Man konnte spüren, wie sich auf Anhieb ihre Liebesdrüsen öffneten, wie die Chemie ihrem Kreislauf die Sporen gab und wie ihre kleinen, folgsamen Herzen höher schlugen.
Sie entfesselten auch meine Phantasie von Anfang an. Bis ins Letzte berechenbar in ihrer positivistischen Denkensart und ihrem Überschwang, waren sie mehr als geeignet für einen kunstvoll erdachten, handgefertigten Schicksalsschlag. Trotzdem griff ich nicht zu. Es kommt mir heute so vor, als hätte ich auf ein Zeichen gewartet, nicht auf ein Zeichen von
oben
, von einem
höheren Wesen
, sondern auf einen Fingerzeig von dem, was die Welt umgibt und durchdringt: vom großen, schmunzelnden
Zufall
, der ich letztlich auch selbst bin.
Das Zeichen kam. Der Zufall schüttete sein unerschöpfliches Füllhorn über dem fidelen Pärchen aus. Ich muss gestehen, dass ich damals fast neidisch war: Den Schlag, der die beiden traf, hätte auch ich nicht besser führen können, er war eine Meisterleistung an Stil, Präzision und Geschick. Der Zeitpunkt war perfekt gewählt, die Folgen von köstlicher Grausamkeit: Schon aneinander gebunden, noch nicht miteinander vereint, so mussten die zwei voneinander Abschied nehmen. Der junge Mann war tot, aber nicht tot genug, um dem Vergessen anheim zu fallen; die junge Frau blieb lebendig, aber nicht lebendig genug, um sich von seinem Elend abzuwenden.
Während die beiden in ihrem stummen Schattenreich versanken, fühlte ich mich von neuer, nie da gewesener Kraft erfüllt. Die Krise war gemeistert, die Zweifel waren besiegt, und nicht nur das: Mit einem Mal begann sich eine Chance vor mir abzuzeichnen. Die Chance nämlich, mein Werk mit dem größten Sieg über Körper und Geist zu krönen, den man sich vorstellen kann: mit der Unsterblichkeit …
27
Unaufhörlich fällt der Regen auf das Land herab; gelangweilt zeichnet er seine Kreise in die laternenbeschienenen Pfützen. Der Lemming zieht die Glastür des Siegfried-Pavillons auf und huscht, eine feuchte Spur hinterlassend, über den menschenleeren Flur.
Er kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was ihn hierher getrieben hat; es war wohl eher Instinkt als wohl geordnete Überlegung. Wie im Flug haben ihn seine Beine die Kellertreppe hinaufgetragen, haben sich hinter dem Liftschacht rasch der Pantoffeln entledigt, um im beschleunigten Schleichschritt Krotznigs Kollegin zu passieren, die gestikulierend in einer der beiden Telefonzellen stand, sind dann in die Nacht hinaus- und wie von selbst den Hügel hinabgelaufen. Jetzt erst, im Nachhinein, rechtfertigt die Logik die Intuition: Hier wird Krotznig zuletzt nach ihm suchen. Wahrscheinlich wird er zähneknirschend Unterstützung anfordern, wird seine kleine Privatpirsch zur Treibjagd
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