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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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einschneidende Sozialkürzungen und Steuererhöhungen vor, kauft aber gleichzeitig milliardenschweres Kriegsgerät und verschafft damit dem Wirtschaftsimperium ihres wichtigsten Förderers entsprechend gigantische Gegengeschäfte.
    Und so weiter. Man liest derlei ständig. Aber an jenem Tag las ich mit einem Mal zwischen den Zeilen, und plötzlich sah ich die Welt in einem neuen Licht, in einem Licht, das all dieVerdienste, die ich mir bis dahin erworben hatte, mit einem Schlag verblassen ließ. Mein Streben nach innerer Echtheit, mein Ringen um die Macht der Willkür, mein jahrelanger geistiger Freiheitskampf, all das erschien mir auf einmal so belanglos wie die unbeholfenen Versuche eines Wickelkindes, es den Erwachsenen gleichzutun. Die Erkenntnis brach so jählings über mich herein, dass ich ihr nichts engegenzusetzen hatte: Verglichen mit den wahren Herren über Schöpfung und Zerstörung, war ich nicht mehr als ein jämmerlicher Westentaschengott.
    Diese Herren – und mit Ausnahme einiger weniger Frauen, die sich wie Männer gebärdeten,
waren
es Herren   –, diese Herren bespielten den Rasen des Erdballs genauso erbarmungslos wie ich, aber sie taten es in Dimensionen, gegen die sich meine bescheidenen Streiche unsagbar lächerlich ausnahmen. Sie logen und manipulierten, betrogen und zerstörten in einem Ausmaß, von dem ich nur träumen konnte. Gesetze, die ich vorsichtig und mühevoll umgehen musste, ließen sie mit einem Achselzucken ändern, nachdem sie sie gebrochen hatten; mit dem geschliffenen Lächeln der Selbstgefälligkeit schickten sie heute ungezählte Menschen in den Tod, um sich morgen von den Überlebenden dafür preisen zu lassen. Ihre Möglichkeiten waren schier unbegrenzt: Sie verfügten über Mittel und Wege, um ganze Völker zu verhetzen; sie waren in der Lage, sich an der ganzen Welt zu vergehen, und sie taten es auch. Sie taten es täglich, und sie taten es ausgiebig. Ihnen war wirkliche Macht gegeben, Macht über Himmel und Hölle, und sie gebrauchten diese Macht mit einer Radikalität, die meine kleinen Zügellosigkeiten um ein Tausendfaches übertrumpfte. Nicht ich, sondern
sie
waren die ungeschlagenen Meister der Soziopathie   …
    Ich fühlte mich also vom Thron gestürzt, gedemütigt, und der Schock darüber war groß, zu groß, um nicht auch meinUrteilsvermögen zu trüben. Dabei hätte es nur eines kühlen Verstandes bedurft: Ein klarer Gedanke hätte die Dinge wieder ins Lot gebracht.
    In Wahrheit waren sie nämlich klein, diese Herren am Schachtisch der Welt, nicht größer als ihre Figuren. In Wahrheit konnten sie mir nicht das Wasser reichen. Mochten sie auch die greifbare Welt beherrschen, die Erde, das Fleisch und das Geld, so waren und blieben sie doch nur Lakaien ihrer eigenen Gier. Mochten sie auch frei von Rücksicht oder Menschenliebe sein, so blieben sie doch von den dumpfen Motiven der Kleinbürgerlichkeit gefangen. Im Gegensatz zu mir waren sie schlecht, weil sie sich selbst für schlecht hielten: Obwohl sie sich einer ihnen anerzogenen Ethik verpflichtet zu fühlen schienen, entschieden sie sich unaufhörlich gegen sie. Von der Gier nach Macht und Besitz getrieben, überfraßen sie sich jeden Tag aufs Neue an den Früchten, die ihnen ihr eigener Glaube verboten hatte, und jeden Tag aufs Neue bedeckten sie ihre Blöße, überspielten sie ihr Gewissen mit verlogenen, selbstgefälligen Attitüden. Das verzerrte ihren Geist und ihr Gesicht; das machte sie hässlich: Sie waren hässlich, weil sie sich hassten; sie hassten sich, weil sie schlecht waren, und sie waren schlecht, weil sie
wussten
, dass sie es waren.
    Ich dagegen war nicht hässlich. Ich tat, was ich wirklich und wahrhaftig tun wollte, ich hatte Spaß an einem Spiel, das nach wie vor das Spiel eines unschuldigen Kindes war, weil es nichts anderem diente als dem einen, dem einzigen Zweck: gespielt zu werden. Wer behauptet, Gott würfle nicht, irrt. Gott liebt es, mit dem Glück und dem Unglück der Menschen zu spielen – dass seine Würfel gezinkt sind, erhöht nur den Reiz   …
    Heute wundert es mich, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin. Heute genügt ein Blick in die Zeitung oder in den Fernsehapparat, um die Schlüssigkeit meiner Gedanken zuuntermauern: Da stehen sie dann, die Herren aus Wirtschaft und Politik, diese machtgeilen Hohepriester ihres numinosen Schöpfers und Erhalters, den sie
Markt
nennen. Da stehen sie, angetan mit ihren maßgeschneiderten Einheitssoutanen: Anzug, Krawatte, ein

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