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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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geschlichen sein? Wie viele Nächte mag er hier verbracht haben, bis Stillmann sein anagrammatisches Sprachsystem dechiffriertund gelernt hat, es zu beherrschen? Und bis er selbst die winzige Stelle am schlaffen Leib des Gelähmten entdeckt hat, die dieser noch zu kontrollieren in der Lage ist? Die kleine Zehe des rechten Fußes, der Lemming kann es nun ganz genau sehen, an die der Autist seine Finger legt   …
    Irgendwann muss Ferdinand Buchwieser das Geheimnis der beiden entdeckt haben. So muss es gewesen sein. Entweder hat er Grock eines Nachts an Stillmanns Krankenlager überrascht, oder – und das erscheint dem Lemming wahrscheinlicher – die Bedeutung seiner verschrobenen Aussprüche hat sich dem Pfleger unversehens erschlossen, wie sie sich schließlich auch ihm, dem Lemming, erschlossen hat. Die respektvollen, beinah bewundernden Worte aus dem Mund des sonst so verächtlichen Buchwieser weisen darauf hin:
Grock, das Ass, Grock, der Trumpf
… Und so muss er auch auf den Rest gekommen sein, auf die ganze Geschichte, die sich um Stillmanns Familie rankt. Und auf den Urheber dieser Geschichte, den Joker, den Kuckuck, den Gott   …
    «Robert leidet   …»
    Grock hat Robert Stillmanns Fuß nun losgelassen. Ist von dessen Bett zurück- und an die schützende Wand getreten. «Robert leidet   …», sagt er noch einmal.
    Verwirrung erfasst den Lemming. Er, der eben noch als unbeteiligter Beobachter im Halbschatten gestanden hat, fühlt sich auf einmal wie ein Überraschungsgast in einer dubiosen Talkshow; er sieht sich auf die Bühne gezerrt und dem Gleißen der Scheinwerfer ausgesetzt. Kein Zweifel: Grock hat die Worte an
ihn
gerichtet, und mehr noch: Er hat in
seiner
Sprache mit ihm gesprochen   …
    «Ich   … Ich weiß   … Ich meine   … Ich kann es mir vorstellen   …», stammelt der Lemming. Er geht nun zögernd zum Krankenbett, nicht ohne Grock einen fragenden, Erlaubnis heischenden Blick zuzuwerfen; unschlüssig hebt er die Handund berührt Stillmanns Zehen, als wären es glühende Kohlen.
    Und dann, ja dann kann auch er es spüren.
    Es ist nicht mehr als der Hauch einer Bewegung, die Idee eines Lebenszeichens, das Stillmann von sich gibt. Und trotzdem liegt ein großes, ein jahrelanges Aufbäumen darin: Stillmann ist Robinson, Grock sein Freitag, der Lemming die Brigg, die weit draußen am Horizont vorüberzieht   …
    Man muss die Fingerkuppen an den Ansatz der kleinen Zehe legen, da, wo sie schon in den Fußballen übergeht; ganz sanft muss diese Berührung sein, weil sie den schwachen Impuls zu ersticken droht. Der Lemming schließt die Augen, versenkt sich ganz in seinen Tastsinn   …
    Fünf-, sechsmal lässt Robert Stillmann seinen winzigen Muskel spielen, dann legt er eine Pause ein.
    «Herr Stillmann   … Können Sie mich hören?»
    Die Zehe zuckt. Einmal.
    «Ich   … Ich weiß nicht, was ich sagen soll   … Das ist ja   … phantastisch   … Kann ich   … Kann ich Ihnen irgendwie helfen?»
    Stillmanns Reaktion lässt auf sich warten. Dann die Bewegung, und wieder einmal:
Ja
.
    «Haben Sie Schmerzen, Herr Stillmann? Ich meine   … körperliche Schmerzen?»
    Zweimal drückt die Sehne gegen die Finger des Lemming:
Nein
.
    «Gut   … Gut   …» Der Lemming denkt angestrengt nach, aber sein Fundus an Entscheidungsfragen ist erschöpft. Obwohl er weiß, was er wissen will, fällt es ihm schwer, die geeigneten Worte zu finden. Ein Gespräch dieser Art will ökonomisch geführt sein, ohne die üblichen Schnörkel und Ausschmückungen. Am rationalen Denken ist der Lemming noch selten gescheitert, das rationelle dagegen ist ihm von jeher fremd.
    «Herr Stillmann   … Wollen Sie mir etwas sagen?»
    Ja.
    «Können Sie buchstabieren?»
    Ja.
    «Gut   … Nein, warten Sie   …»
    Jetzt fällt ihm das Buch wieder ein, das er gelesen hat, dieses Buch, das eines der Opfer des
Locked-in-Syndroms
nur mit dem Augenlid diktiert hat. Während seine Frau oder einer seiner Freunde am Krankenbett saß und unaufhörlich das Alphabet hersagte, brauchte der Mann nur im rechten Moment ein Zeichen zu geben: Er visierte die Buchstaben an wie ein Jäger einen Fasan inmitten des aufflatternden Rudels   …
    «Warten Sie, Herr Stillmann. Ich werde es für Sie tun   …»
    Und der Lemming beginnt. Er deklamiert das Alphabet mit der Konzentration eines Abecedariers, langsam und voller Unterbrechungen. Als er beim
T
angelangt ist, gibt Stillmann sein Zeichen.
    «T», wiederholt der Lemming,

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