Lemmings Himmelfahrt
erledigen musste … Ach ja, bevor ich’s vergesse …»
Tobler greift in eine der ausgebeulten Taschen seines weißen Ärztemantels.
«Ihre Identität, Herr Odysseus … Ich hab’s Ihnen ja versprochen: Die Erinnerung kommt ganz von allein wieder …»
Er zieht das Portemonnaie des Lemming heraus und legt es behutsam auf Stillmanns Bettdecke.
«Jetzt haben S’ Ihren Namen wieder, dafür haben S’ Ihr Gesicht verloren», meint er bedauernd. «Ich werd es Ihnen gleich desinfizieren; mit Blutvergiftungen soll man nicht spaßen. Wie ist das eigentlich passiert?»
«Bin gestolpert …», murmelt der Lemming.
«Gestolpert … verstehe. Na kommen S’, setzen Sie sich einmal dorthin …»
Ein Wink mit der Waffe weist dem Lemming den Weg. Kurz darauf sitzt er wieder im Rollstuhl, den Tobler an Robert Stillmanns Bett schiebt. Der Arzt lässt sich ihm gegenüber auf der Bettkante nieder.
«Warum, Herr Doktor? Ich will wissen, warum …»
«Was warum?»
«Warum haben Sie all diese Dinge getan? Ich verstehe es nicht …»
Tobler seufzt und holt eine kleine Taschenlampe hervor.
«Glauben Sie an Gott, Herr Wallisch? An eine Kraft, die Ihr Schicksal lenkt?»
«Ich … Ich weiß nicht … Wahrscheinlich schon …»
«Und wissen Sie auch, wie Gott mit Ihren Fragen und Bitten verfährt? Mit Ihren Gebeten? Ich werd es Ihnen sagen: Was wollen Sie? Ihr tägliches Brot? Gut. Es wird vergiftet sein. Ein langes Leben? Bitte sehr. Sie werden es an der Herz-Lungen-Maschine verbringen. Den Weltfrieden? In Ordnung, keine Kriege mehr. Nur ein unbekanntes Virus, das höchst friedlich drei Viertel der Menschheit dahinrafft. Oder wünschen Sie sich einen freien Parkplatz, samstagabends, mitten vor der Staatsoper? Wunderbar: Genau dort wird man Ihnen während der
Tosca
das Auto stehlen … Das ist Gottes Humor. Er ist eben so …»
«Worauf wollen Sie hinaus?», fragt der Lemming leise.
«Darauf, dass Ihr Herrgott alles andere als ein Moralist ist. Ethos? Gesetz? Gewissen? Ach, hören Sie mir auf. Oder können Sie sich einen Gott mit Gewissensbissen vorstellen? Er will einfach nur da sein und ein wenig Spaß mit Ihnen haben. Und mit sich selbst: Sie sind ja schließlich sein Ebenbild. Verstehen Sie? Sie sind so etwas wie die rechte Hand, mit der sich Ihr Himmelvater einen runterholt …» Der Doktor schmunzelt. «Ärgern Sie sich jetzt?»
«Nein», murmelt kleinlaut der Lemming. Dass es alleine die Angst ist, die seinen Zorn im Keim erstickt, fügt er nicht hinzu.
«Sollten Sie aber. Verlierer, die sich nicht ärgern, sind Spielverderber; es macht keinen Spaß, gegen sie zu gewinnen.Der Robert zum Beispiel …» Tobler greift zur Seite und streichelt liebevoll Stillmanns Fuß. «Der Robert ärgert sich seit fünfzehn Jahren. Ich kann’s in seinen Augen sehen, jedes Mal, wenn ich auf ein Plauscherl bei ihm vorbeikomme. Gell, Robert? … Was ich Ihnen damit sagen will, Herr Wallisch, ist nur, dass man mit seinen Wünschen achtsam sein muss. Sehr, sehr vorsichtig. Aber bitte: Wenn Ihr Wunsch die Wahrheit ist, dann werden Sie sie auch bekommen. Wie heißt es so schön? Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar … Trotzdem: Alles zu seiner Zeit. Jetzt lassen Sie sich erst einmal anschauen … Na servus, da sind Sie aber kräftig gestolpert. Übermütig wie ein junger Hund, der Herr Wallisch … Hab ich Ihnen eigentlich gesagt, dass das Laufen und Springen im Anstaltsgelände verboten ist? Aber nur keine Sorge, wir kriegen das schon in den Griff …»
Bald spürt der Lemming, wie sein wundes Gesicht betupft, gesäubert wird. Fühlt den brennenden Schmerz, der zugleich ein süßer Kindheitsschmerz ist. Damals sind es die ewig zerschundenen Knie gewesen, die versorgt werden mussten, heute ist es die linke Wange, hinauf bis über das Auge, und auch die Nase, die Nase vor allem. Tobler verrichtet seine Arbeit sanft und gewissenhaft – ein ruhiger, Vertrauen erweckender Mann, wäre da nicht die Pistole in seiner Hand, dieses doch eher ungewöhnliche Ärztebesteck …
«Und jetzt krempeln S’ den Ärmel hoch.»
«Wozu?»
«Haben S’ schon einmal von Wundstarrkrampf gehört, Herr Wallisch?»
«Ja, aber es wäre mir trotzdem lieber …»
Der Lemming hat Injektionen schon immer gehasst. Misstraut der Chemie, die listig das Blut infiltriert, durch den Körper schleicht, ihn unterwandert und verändert. Misstraut dem Unsichtbaren, gegen das man sich nicht wehren kann
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