Lemmings Himmelfahrt
längst weggeworfen hat. Oder aufgegessen. Tagelang hab ich danach gesucht. Und dann kommen Sie daher und finden ihn einfach … Und gehen trotzdem zu diesem Rendezvous … Neugierde, nehme ich an. Der alte, unbezwingbare Forschergeist, oder?»
Dem Lemming fehlt die Kraft für eine Antwort. Sein Kopf ist längst zur Seite gekippt; Speichel läuft aus seinem Mund. Schwer atmend starrt er auf den Arzt, der jetzt die Nachttischlampe anknipst und eine Reihe kleiner Plastikbeutel aus seinem Kittel zieht. Er öffnet zwei davon, holt eine grünliche Haube und eine Maske aus Zellstoff heraus, stülpt sich die Haube über den Haarschopf, die Maske über Mund und Nase. Einem anderen Säckchen entnimmt er mit spitzen Fingern ein Tuch, das er auf die Bettdecke breitet. Er reißt die beiden Beutel auseinander, schiebt die Folie unter Stillmanns Fuß. Gedämpft klingt seine Stimme durch den Mundschutz, als er weiterspricht.
«Wissen S’, Herr Wallisch, Sie sind mir schon ein Schlawiner. Völlig berechenbar … und trotzdem immer wieder überraschend.Was glauben Sie, wie ich gestaunt hab, dass Sie da bei uns aufkreuzen – als Patient? Ich hab sofort gewusst, wer Sie sind; der Herr Balint hat Sie mir ja haarklein beschrieben, gleich nach der Tat. Ich hab ihn in der Nähe des Naschmarkts aufgelesen, um ihn sicher zurück in die Klinik zu bringen. Ganz aufgeregt war er, der Arme, sein ganzes gebrochenes Herz hat er mir ausgeschüttet: dass seine Frau mit dem Buchwieser abhauen wollte und dass ihm Gott ein Zeichen gegeben hat, einen Auftrag zur Rache, einen silbernen Wink des Himmels sozusagen, der wie durch ein Wunder unter seinem Kopfkissen gelandet ist … Passen S’ mir eh gut auf das kleine Gotteszeichen auf?»
Der Lemming röchelt. Entsetzt und gebannt folgt sein Blick den Händen des Arztes, der inzwischen die anderen Päckchen geöffnet und ihren Inhalt auf das Tuch geleert hat: Eine Schere kann der Lemming erkennen, eine Pinzette und eine seltsam gebogene Nadel. Einige Mullpölsterchen. Dann ein Paar dünne Gummihandschuhe. Und schließlich den Gegenstand, der auch die allerletzten Zweifel an Toblers Absicht verfliegen lässt: schlank und rasierklingenscharf, ein Skalpell …
«Mir ist aber ziemlich bald klar geworden, was Sie zu uns getrieben hat: Statt des Herrn Balint hat man Sie für den Mörder gehalten – ein unglaublicher Zufall, einfach köstlich: Ich hab mich halb totgelacht … Und deshalb wollten Sie die Sache auf eigene Faust klären, statt sich einfach der Polizei zu stellen. Sie wollten sich reinwaschen wie einer dieser Kinohelden … Wie Sie so rasch auf die
Ulmen
gekommen sind, ist mir allerdings ein Rätsel. Aber wie gesagt: Sie scheinen mir immer für eine Überraschung gut zu sein …»
Tobler nickt dem Lemming freundlich zu, gießt Desinfektionsmittel auf die bereitgelegten Tupfer, wäscht sich die Hände in der transparenten Flüssigkeit. Streift dann vorsichtig die Handschuhe über.
«Das mit dem Reinwaschen scheint ja nicht so gut geklappt zu haben. Dafür hab ich den Herrn Balint reingewaschen. So richtig gründlich … Ich glaube, es hat ihm sogar Freude bereitet: Immerhin hat sich sein Lebenstraum erfüllt, sein ewiger Wunsch nach vollkommener Sauberkeit. Ich denke, das war ich ihm schuldig … Wie heißt es so schön? Eine Hand wäscht die andere …»
Ein gurgelnder Laut dringt aus dem halb geöffneten Mund des Lemming. Er will reden, will schreien, will irgendwie verhindern, was doch nicht zu verhindern ist. Nur nicht kotzen, denkt er, jetzt nur nicht kotzen, das würde den zähen Verkehr auf dem Atemhighway vollends zum Erliegen bringen. Die Augen schließen vielleicht … Aber nein: Zu groß ist die Angst davor, wegzudämmern, einzuschlafen für immer. Unmöglich also, es nicht mit anzusehen, unmöglich, den Blick von den Händen des Arztes zu lösen, der jetzt beginnt, mit Pinzette und Tupfer Robert Stillmanns Fuß zu waschen.
«Wollen Sie mir etwas sagen, Herr Wallisch? Oder du vielleicht, Robert? Ihr seid mir schon zwei Plaudertaschen, ihr beiden …»
Tobler seufzt, legt die Pinzette aus der Hand und befühlt mit Daumen und Zeigefinger Stillmanns kleinen Zeh.
«Kannst du nicht oder willst du nicht?», fragt er nach einer Weile. «Ich glaube, er will nicht …», meint er dann, zum Lemming gewandt. «Der Fluch der Mumie lastet auf mir … Wissen Sie, Herr Wallisch, der Mensch ist ein seltsames Tier: Seinen Göttern verzeiht er alles,
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