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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Docht der Lampe nach unten, bis die Flamme zum Flämmchen wird, bis sie errötet und endlich verlischt.

31
    Über die goldenen Felder rasen die Wolken. Ihnen entgegen hebt sich der Blick des Betrachters im Flug, gleitet und schwebt im Pfeifen des Windes, richtet sich dann auf das wogende Weizenmeer. Zwischen den schwirrenden Nebeln lassen sich vier Gestalten erkennen, die laufen und springen, halb von den Ähren verborgen, in südlicher Richtung. Sie haben einander die Hände gereicht: Seite an Seite ziehen sie so ihre Spur durchs Getreide; wäre der Sturm nicht so laut, man könnte sie jauchzen hören. Wallend und weiß sind ihre Gewänder, die flatternden Ärmel, bunt nur die fröhlichen Mützen auf ihren Köpfen   …
    Außen läuft Hanno, der Inka, sein mächtiger Leib ist vonseltsamer Leichtigkeit; neben ihm Theo, der Pfleger, ein seliges Lächeln auf dem Gesicht. Ihm folgt Willi Tourette mit großen, glänzenden Augen, und schließlich   … er selbst. Der Lemming. Schwerelos, unversehrt, glücklich. Er singt   …
    «Die Sonne, der Regen, der Wind und der Schnee, der himmlische Segen von Faun und von Fee   …»
    Déjà-vu. Ein klassisches Déjà-vu, denkt der Lemming. Wo habe ich das schon erlebt? Und er beginnt, seinen Geist nach der Erinnerung zu durchkramen wie eine Jukebox, die nach der richtigen Platte sucht.
    Was man zerteilt, zerlegt, das funktioniert nicht mehr. Oder, um es mit den Worten Karl Kraus’ zu sagen:
Psychoanalyse ist die Krankheit, für deren Therapie sie sich hält
… Und so zerrinnt das schöne Bild; Hanno und Theo und Willi verblassen.
    Der Lemming erwacht.
    Nach wie vor herrschen Stille und Dunkelheit. Nur eine Kleinigkeit scheint sich geändert zu haben, seit ihn der Schlaf übermannt hat: Die Finsternis wirkt nun um eine Spur weicher; ins undurchdringliche Schwarz mischt sich ein vager Hauch von Dunkelgrau. Der Lemming hebt blinzelnd den Kopf. Er hat sich nicht getäuscht: Weit oben, an der Decke der Kapelle, wird ein schmaler, blasser Lichtstreif sichtbar, gleichsam ein Abklatsch des Tages, der Sonne, eine Schablone der Wirklichkeit wie die Schattenbilder im berühmten Höhlengleichnis Platons   … Der Lichtstreif flackert ein wenig, verliert für einen Augenblick an Helligkeit, um gleich danach wieder aufzuleuchten. Wahrscheinlich ein Windstoß, der mit den Zweigen spielt, denkt der Lemming. Nur dass er kein Raunen, kein Blätterrauschen vernehmen kann. Dann aber, plötzlich, ganz leise, dringt etwas anderes an seine Ohren   …
    «Wir tanzen, wir tanzen bei Tag und bei Nacht   …»
    Der Lemming springt auf, verwundert, dass ihn die Beinenoch tragen, und schreit, nicht minder erstaunt von der Kraft seiner Stimme.
    «Hallo!   … Hallo!»
    «…   und loben und preisen die irdische Pracht   …»
    So tief es geht, holt er jetzt Luft, füllt sich die Lungen, bis sie zu platzen drohen, und brüllt. Springt dabei auf und nieder in seinem Verlies, krallt die Finger in Spalten und Ritzen der steinernen Wand, bis sie bluten. Und brüllt. Und brüllt.
    «Hilfe! Hilfe! Hier bin ich! Hier!»
    Und dann, der Lemming kann es kaum glauben, erstirbt der Gesang. Er klingt nicht langsam ab, entfernt sich nicht, nein, er verstummt mit einem Schlag.
    «Hallo! Hier!»
    Die Lampe, fährt es dem Lemming im selben Moment durch den Kopf. Man kann mich hier drinnen nicht sehen. Der Abgrund. Die Finsternis   … Schon malt er sich aus, wie vier schwergewichtige Frauen aus vier Meter Höhe auf seinen Schädel fallen – eine Pointe, auf die er mit Freuden verzichten kann. Und so tasten die zitternden Hände geschwind nach dem Feuerzeug, suchen die Lampe, zünden sie an.
    «Hier! Hier im Brunnen!»
    Es dauert nicht lange, da gehen vier Monde auf, vier helle, runde Gesichter, die sich, eins nach dem anderen, über den Rand der Grube schieben.
    «Schau doch! Der Süße!»
    «Was machst du denn da?»
    «So süß   …»
    «Willst du mit uns tanzen gehen?»
    Ein verlockendes Angebot. Da muss der Lemming nicht lang überlegen.
    «Ja», ruft er hinauf. «Gerne, sehr gerne. Gehen wir tanzen   …»
    «Das wird lustig!»
    «Ja, das wird sicher lustig. Ihr müsst mir nur die Leiter herunterlassen. Die muss irgendwo da oben liegen   …»
    «Hast du sie denn vergessen?»
    «Ja, leider. Hab’s zu spät gemerkt, als ich schon hier unten war   …»
    «Ist der süß   …»
    «So süß   …»
     
    Der warme Boden. Das schillernde Grün des Waldes. Der Gesang der Vögel in den Baumkronen: Ein

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