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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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hieß:
Du
.
    Man hat behauptet, du seist das Kind eines Mannes, der sein Leben verloren hat, noch ehe du gezeugt und geboren wurdest. Man hat behauptet, du seist das Kind einer Liebe, so stark, dass sie über die Zeit und das Schicksal triumphiert.
    Heute, an deinem fünfzehnten Geburtstag, schenke ich dir die Wahrheit.
    Ich habe damals nicht Wache gestanden. Ich habe nicht vor der Tür gewartet. Ich bin auf die Toilette gegangen, um dich aus mir herauszulocken. Jeden Monat aufs Neue. Beim vierten Mal bist du gekommen, als ich kam, und deine Mutter ist schwanger geworden. Genau genommen hast du also das Licht der Welt auf dem Klo eines Irrenhauses erblickt. Oder auf dem Himmelsthron, wenn dir das lieber ist   …
    Es war nicht schwer, die beiden Becher zu vertauschen, den falschen Gral mit dem richtigen. Der richtige war der, in dem du damals schon geschwommen bist: Du bist aus der Crème de la Crème de la Crème entstanden   …
     
    Unendlich viele Menschen vermehren sich, aber ihr Streben nach Selbstverewigung ist immer zum Scheitern verurteilt. Mit groben, ungeschickten Händen versuchen sie, geschönte Klone ihrer selbst zu modellieren. Sie drillen und drohen, dozieren und strafen; mit ihren jämmerlichen Überredungskünsten verwässern sie das Blut, verstümmeln sie den Geist ihrer Kinder. Was bleibt, ist nicht mehr als ein Stück ihres Fleisches, eine eigenwillig gebogene Nase vielleicht oder die Neigung zur Fettleibigkeit. Es ist erbärmlich.
    Ein heilsamer Schock tut dir besser, mein Sohn.
    Heute, an deinem fünfzehnten Geburtstag, schenke ich dir, und nur dir allein, diese Zeilen. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, um die Wahrheit zu erfahren. Sei du nur aufgewühlt. Du weißt schon: zuerst das Entsetzen, die Erschütterung,dann die maßlose Wut, gefolgt von Verzweiflung, Trauer und Müdigkeit. Sei ruhig enttäuscht, es ist das Beste, was dir passieren kann, weil es das Ende der Täuschung ist. Heute, an deinem fünfzehnten Geburtstag, schenke ich dir ein neues Leben. Nie wieder wirst du sein, was du gewesen bist, und wenn der Zorn und der Schmerz einmal verflogen sind, dann wirst du Geschmack an meinem Vermächtnis finden. Du kannst gar nicht anders. Die Lunte brennt bereits, dein geistiger Urknall steht kurz bevor.
    Weißt du, warum der Gott deiner Mutter den Tod erfunden hat? Aus einem einzigen Grund: nur, um dir Angst zu machen. Deine Furcht ist sein Schlüssel zur Macht. Entreiß ihm diesen Schlüssel, und du beendest seine Herrschaft. Stürz also Gott von seinem Thron, mein Sohn, nimm seinen Platz ein, wie dein Vater es getan hat, und hab Spaß. Hab einfach nur enorm viel Spaß   …
    Was mich betrifft, so habe ich den Tod schon lange, bevor es dich gab, zu beherrschen gelernt. Durch dich beherrsche ich nun auch das Leben: Mein Geist wird in dir fortbestehen; ich vermache ihn dir in diesem Testament.
    Weißt du, wie frei wir ohne Ängste, ohne Wünsche sind? Wenn uns jedes erdenkliche Schicksal gleich viel gilt, wenn uns Leben und Tod also vollkommen gleichgültig sind? Grenzenlos frei, das kannst du mir glauben. Unendlich, unendlich frei   …

30
    «Unendlich, unendlich frei   …», murmelt der Lemming.
    Er schließt das lederne Buch, das vor ihm liegt, wendet sich ab und erbricht sich auf den feuchtkalten Boden. Zum dritten Mal in dieser Nacht? Zum vierten? Er weiß es nicht mehr.
    Stockfinster ist es über ihm und totenstill. Nichts als der runde, helle Fleck, in dem er kauert, der ruhige Schein der Petroleumlampe, der die Decke nicht annähernd erreicht. Wie spät mag es wohl sein? Ist die Sonne schon aufgegangen? Wie viele Stunden sind verstrichen, seit Tobler ihn hierher gebracht hat?
    Verschwommen ist die Erinnerung. Der Arzt hat Robert Stillmanns wunden Fuß versorgt, nach allen Regeln der Kunst, soweit der Lemming das zu beurteilen vermochte. Hat die Haut vernäht und verbunden, hat schließlich die Reste beseitigt, die blutigen Tücher und Tupfer, die Handschuhe und das Skalpell. Ist dann mit dem Lemming in die Nacht hinausgefahren.
    Der Regen war weitergezogen, die Wolken hatten sich gelichtet. Der Mond hat Bäume und Büsche in blassblaues Licht getaucht: ein schöner, ein traumhafter Anblick. Gute Bedingungen auch für die nächtliche Großfahndung, hat der Lemming gedacht. Es wird noch alles gut, zumindest das, was noch gut werden kann. Krotznigs Leute werden mich finden   …
    Aber da sind keine Leute gewesen. Und keine Scheinwerfer, und auch kein Hundegebell. Adolf Krotznigs

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