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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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wirklich: Von den Blättern verborgen, war da ein Riss in der Wand, mannshoch und gerade breit genug, um sich mit angelegten Armen durchzuzwängen.
    «Brav so   … Gehen Sie jetzt vier Schritte nach links und probieren S’ keine Dummheiten. Wenn Sie dadrinnen stolpern, ist Ihre Nase das Geringste, was Sie sich brechen   …»
    Dann sind sie in der Kapelle gestanden, in dieser schwarzen, nach Fäulnis stinkenden Ruine. Kalt war es hier, kälter als draußen. Der Lemming hat seinen Schlafrock enger gezogen. Er hätte sich gern auf den Boden gehockt, sich hingelegt, um weiterzuschlafen   …
    «Ein bisserl Geduld noch, Herr Wallisch. Sie werden bald Ihre Ruhe haben   … Drei Schritte vor, wenn ich bitten darf. Und jetzt nach rechts. Weiter   … weiter   … Stopp!»
    Die ganze Zeit über hatte Tobler die Lampe auf seinen Gefangenen gerichtet, jetzt aber hat er sie gesenkt, und da, keine zehn Zentimeter vor den nackten Füßen des Lemming, ist der Abgrund zwischen den Steinplatten sichtbar geworden. Ein kreisrunder Kessel von ungefähr zwei Meter Durchmesser, der senkrecht in die Tiefe führte. Auf der gegenüberliegenden Seite hat der Lemming die oberste Sprosse einer Leiter erblickt, die aus der Schlucht ragte.
    «Und hier», hat Tobler gesagt, «der Abgang zur Krypta. Unten ist alles verschüttet, zum Teil auch vermauert; man kommt also leider nicht in die Gruft. Vielleicht ist Ihnen das ja ganz recht: So kann Sie der Herr von Sothen nicht belästigen. Er soll ein ziemlich unangenehmer Mensch gewesen sein   … Na kommen S’, Herr Wallisch, nur immer munter voran. Die Wahrheit ruft   …»
    Vier, fünf Meter vielleicht ist der Lemming hinuntergestiegen, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Tobler hat sofort die Leiter hochgezogen und, gewissermaßen als Entschädigung, das Buch in die Grube geworfen.
    «Sie werden sich schon zurechtfinden», hat er dem Lemming zugerufen. «Ich muss jetzt den Rollstuhl zurückbringen und ein wenig die Lage peilen. Wer weiß, vielleicht hat man den Mörder vom Herrn Balint inzwischen gefasst   …»
    Und weg war der Arzt. Hat nichts zurückgelassen als die Wahrheit und die Finsternis. Eine Zeit lang hat der Lemming nur so dagesessen und gegen den Schlaf angekämpft. Aber schließlich hat er sich aufgerafft und damit begonnen, sein Verlies zu untersuchen. Auf Knien ist er über den schlüpfrigen Boden gerutscht, bis seine Hände die Petroleumlampe ertastet haben. Gleich daneben ein Feuerzeug: Dieter Tobler hatte an alles gedacht.
    Im Licht der Lampe hat der Lemming erkannt, dass eine Flucht aus diesem Loch unmöglich war. Zwar hat sich an einer Seite ein bogenförmiger Gang geöffnet, aber der reichte nicht tiefer als einen Meter in die Wand: Eine Halde aus Schutt und Erde hatte ihn versiegelt. Die Wände selbst waren aus glattem, feuchtem Stein, sie boten dem Kletterer keinerlei Halt. Ein perfekter Kerker also, perfekt jedenfalls aus der Sicht des Kerkermeisters.
    Damit war wohl auch eine weitere Frage geklärt, nämlich die nach Nestor Balints Verbleib in den letzten drei Tagen. Höchstwahrscheinlich war auch der Geiger in diesem Kessel gefangen gewesen, bevor er von Tobler der Waschtrommel zugeführt wurde. Und wie zur Bestätigung seiner Gedanken ist dem Lemming in einer Ecke der Nische ein Häufchen aufgefallen, klein und verschämt, notdürftig mit Erde bedeckt   …
    Da hat er sich das erste Mal übergeben. Und dann noch dreimal, während er Toblers Vermächtnis gelesen hat. Jetzt weiß er es wieder, der Lemming, jetzt hat er sein Gedächtnis wieder im Griff   … Er lehnt sich zurück. Schließt die Augen. Aus dem Erdreich auf der anderen Seite lösen sich einige Steineund kullern herab. Zwei Hände wühlen sich durch den Schutt, vertraute Altersflecken auf der dünnen Haut. Die Großmutter.
    «Will der Poldi schlafen gehn, muss er z’erst das Licht abdrehn», mahnt sie und wischt sich den Schmutz von der Schürze.
    «Mach ich ja gar nicht», murmelt der Lemming. «Viel zu müde zum Schlafen   … und durstig   …»
    «Nicht dass d’ mich anschwindelst, Bub   …»
    «Ehrlich   … Der Durst bringt mich noch um   …»
    «Geh, reiß dich zusammen, Poldi. Dein Opapa und ich, wir haben damals ganz andere Sachen durchgemacht   …»
    Der Lemming schreckt hoch. Schüttelt die Traumbilder ab. Not ist die Schwester der Sparsamkeit, hat seine Großmutter immer gesagt, und Chaos der Bruder der Ordnung. Oder war es umgekehrt? Egal. Er dreht den

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