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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ärgerlich auf. «Nur wenn es um eine vermeintlich Verrückte geht. Um eine vom Teufel Besessene. Bravo, Herr Smejkal, Respekt: Die Therapie beherrschen Sie ja schon ganz gut, nur was das Diagnostische betrifft, da könnten S’ noch ein bissel an sich arbeiten   … Genug. Wie sind Sie überhaupt an dieses Gift gekommen?»
    «Meine Frau   …» Mit einer müden Geste deutet der Alte nach hinten, auf die Leiche Anna Smejkals. «Sie hat es sich beschafft, schon damals, als unser Benjamin   … Ich hab sie aber davon überzeugen können, sich nicht zu   … also, es nicht zu verwenden. Hab es ihr abgenommen und weggesperrt.» Smejkal dreht sich zur Seite, streckt langsam den Arm aus und ergreift die Hände der Toten. «Sie muss noch ein zweites Fläschchen gehabt haben   …»
    «Und am Weihnachtsabend?»
    «Es ist kurz nach elf gewesen. Wir wollten uns gerade auf den Weg zur Kirche machen, meine Frau und ich. Da hab ich im Stiegenhaus plötzlich die Stimmen gehört: die Stimmen von Angela und dem Baby. Ich dachte zuerst, es sei   … eine Täuschung. Oder das Radio. Bin aber trotzdem hinunter, um nachzusehen, und dann   … Dieser Anblick, diese Zärtlichkeit, dieses so lange nicht mehr vernommene   …
‹Benjamin
›! Zu einem fremden Kind! Eine einzige, schreckliche Lüge!»Smejkal schließt die Augen. Leise schwankt sein Oberkörper hin und her. «In dem Moment hab ich beschlossen, den Schlussstrich zu ziehen. Ich habe meiner Frau gesagt, sie möge warten, ich hätte noch was   … zu erledigen. Dann hab ich das Fläschchen geholt und   … Ich wusste ja, dass die Angela Alkohol trinkt. Wein oder auch – wenn es kalt draußen war – Schokolade mit Rum. Der Rum war wichtig, weil   …»
    «Er den Geschmack des Gifts überdeckt hat?»
    «Nein. Weil sie dem Kleinen dann nichts davon abgeben würde. Ich hab ihr also einen Becher zubereitet   …»
    «Einen Schierlingsbecher   …»
    «Ja. Ich habe ihn ihr vor die Tür gestellt und   … angeklopft. Dann bin ich rasch zu meiner Frau zurück und mit ihr in die Kirche gegangen – wir waren ohnehin schon spät.»
    «Und die Angela hat sich inzwischen den Tod geholt. Das Weihnachtsgeschenk ihres Vaters. Eines Vaters, der sie sonst nur mit Verachtung gestraft hat   … Sie muss doch geglaubt haben, dass der Becher   …»
    «Von ihrer Mutter kommt, ja.» Der Alte nickt, die Augen noch immer geschlossen. «Das ist der Anna   … Das ist meiner Frau am Ende auch bewusst geworden. Nachdem wir von der Mette heimgekommen sind und   … alles vorbei war, hat sie sich die Dinge ja zusammenreimen können.»
    «Die Dinge.»
    «Den Ablauf. Den Hergang. Ich habe versucht, es ihr zu erklären. Dass unsere Tochter eine   … verdorbene Frucht gewesen ist. Eine Frucht, die man aussondern muss. Dass sie ein Kind entführt hat, nachdem sie uns schon unseren Enkel   … unseren kleinen Benjamin   …»
    «Und? Hat sie den botanischen Vergleich verstanden?»
    «Ich weiß es nicht.» Endlich öffnet Paul Smejkal die Augen, kehrt zurück von seiner geistigen Schreckensfahrt in die Vergangenheit. «Aber dass die Angela nicht mehr bei Trost war, das ist auch ihr klargewesen. Sie hat sich   … verkleidet!»
    «Wer? Ihre Frau?»
    «Meine Tochter! Sie hat sich verkleidet!» Smejkal greift nun auch mit seiner anderen Hand nach dem verkrümmten Leichnam. Stößt ihn an, wie um ein letztes Quäntchen Leben aus ihm herauszuschütteln. «Du hast es doch gesehen, Anna! Du hast es mir doch selbst erzählt!» Unvermittelt dreht sich der Alte jetzt um und springt auf die Beine. «Ich kann es beweisen! Es muss doch hier irgendwo sein!» Er stürmt am Lemming vorbei und steuert auf eine Kommode zu, die neben dem lindgrünen Kachelofen steht. Schon macht er sich daran, die Laden aufzureißen, wühlt darin herum, verstreut mit fieberhafter Eile Kleider auf dem Boden. Angelas Kleider.
    «Da!» Paul Smejkal richtet sich auf. «Da, sehen Sie doch!» Mit einer triumphierenden Geste streckt er dem Lemming nun etwas entgegen. Etwas Langes und Schwarzes, aus grobem Leinen Genähtes. Eine Tunika und einen Schleier: ein Ordensgewand. «Sie hat sich als Nonne verkleidet! Ausgerechnet als Nonne! Verstehen Sie das?»
    Verstehen
ist wohl das falsche Wort.
Verstehen
fühlt sich anders an: klarer, bedächtiger. Nicht wie ein Tornado, der einem jählings ins Hirn fährt, einem durch die grauen Zellen pfeift, sie aufwühlt, entwurzelt und hochreißt, um sie in einem gewaltigen Wirbel, in einer

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