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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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einem gottlosen Hochstapler opfert, einem Verbrecher? Wenn sie es elendiglich zu Tode kommen lässt? Wie nennst du es, Frank Lehner, wenn eine Frau ihre ganze Familie zerstört, nur um dann auch noch die Familien anderer, vollkommen unbeteiligter Menschen zugrunde zu richten?»
    «Was meinst du damit?» Frank Lehner klingt verwirrt.
    «Ich werd dir sagen, was ich damit meine! Ganz genau werd ich’s dir sagen! Meine geisteskranke Tochter hat ein Kind entführt! Ein
fremdes
Kind! Und hat es in
mein
Haus gebracht, am Heiligen Abend! Ich   … Ich hab’s genau gesehen! Durch den Türspalt hab ich es gesehen – und gehört! Sie hat das Kind in den Armen gewiegt, und   …», Smejkal ringt nach Worten, «weißt du, wie sie es genannt hat? Weißt du das? Sie hat es   …
Ben
genannt! Verstehst du?
Benjamin!
Sie hat getan, als wäre es   … Die irre Psychopathin! Was die armen Eltern von dem Kleinen ausgestanden haben müssen! Gott sei Dank sind sie sofort verständigt worden, von der Polizei: Der Vater ist gleich hergekommen und hat seinen Buben geholt, kaum dass alles   … vorbei war.»
    Das chemische, nein:
alchimistische
Werk ist beinahe vollendet. Die siedende Brühe wallt noch ein letztes Mal auf.
    «Da glotzt du blöd, oder? Da steht dir dein schamloses Maul offen, weil du dein Spiel nicht vollenden kannst. Sogar der Teufel muss sich eben manchmal in die Schranken weisen lassen!»
    «Soll das etwa heißen   …», flüstert Lehner. «Soll das etwa heißen, dass
du
…»
    «Wer denn sonst? Einer muss es ja tun, auch wenn er dafür in die Hölle fährt. Ja, Frank Lehner, ich hab deinem Treiben ein Ende gesetzt, ich habe den Wahnsinn beendet, den du über uns gebracht hast. Den Wahnsinn meiner Tochter. Weil irgendwann Schluss sein muss. Endgültig Schluss   …»
    Jetzt ist es so weit: Die Flammen sind erloschen, der Schaum hat sich gesenkt. Die Lösung, die zurückbleibt, ist von einer solchen Transparenz, dass es den Lemming noch nicht einmal wundert, sie übersehen, ja förmlich durch sie durchgeschaut zu haben. Als wäre sie eine vermeintlich abhandengekommene Brille, die man nicht findet, solange man sie auf der Nase trägt. Weil sie zu nahe, zu durchsichtig ist.
    Aber bei all ihrer Klarheit ist sie auch ätzend, die Lösung. So ätzend, dass dem Lemming schon bei ihrem puren Anblick Tränen in die Augen steigen. Fassungslos starrt er sie an, starrt ganz hinunter auf den Grund – und kann doch nichts als einen bodenlosen Abgrund sehen.
    Frank Lehner dürfte es ähnlich ergehen. Er scheint nach den passenden Worten zu suchen, und als er sie findet, da ist seine Stimme nicht mehr als ein tonloses Hauchen: «Du alter Mann   … Du   … dummer, böser, alter Mann   …»
    Ein winziger Moment der Stille. Dann ein dumpfer Aufschrei und das Keuchen eines Menschen, dem die Kehle zugedrückt wird.
    «Halt!» Der Lemming greift nach der Bettkante, zieht sich, so rasch er kann, hoch. Keine drei Meter entfernt, auf deranderen Seite des Raums, haben sich Lehner und Smejkal ineinander verkrallt. Ungelenk taumeln sie über den Boden, in enger Umarmung, beinahe wie Tanzschüler, wenn sie sich erstmals am Walzer versuchen. Wobei Frank Lehner die Rolle des Führenden übernommen hat: Mit einer Hand presst er Smejkals hageren Körper an sich, die andere hat er um dessen Hals gelegt. 
    «Halt!», brüllt der Lemming noch einmal. «Hören Sie auf, Herr Lehner! Machen Sie’s nicht schlimmer, als es sowieso schon ist!»
    Die Reaktion jedoch bleibt aus. Im Gegenteil: Frank Lehner scheint noch fester zuzudrücken.
    «Überlegen S’ doch, Herr Lehner! Das
wünscht
er sich ja! Der Mann ist am Ende, der
will
doch den Tod!»
    Noch ehe die Rufe verhallen, hält Lehner inne. Lauscht, den Kopf gesenkt, in sich hinein. Die verschrobene Logik des Lemming scheint ihm zu denken zu geben:
‹Schlag mich›, sagt der Masochist. ‹Das hättest du wohl gern›, gibt hämisch grinsend der Sadist zurück
… Langsam lockert er den Griff, tritt einen Schritt zurück und wischt sich dann, ohne den Blick von Paul Smejkal zu lassen, die Hände am Mantel ab. Als hätte er versehentlich ein Stück fauliges Fleisch berührt.
    Der Alte erwidert ihn nicht, diesen grenzenlos angewiderten Blick. Seine Augen sind starr auf den Lemming gerichtet, auf diese Schreckgestalt, die – wie ein Deus ex Machina – hinter dem Leichnam seiner Frau erschienen ist. Furchtsam und verständnislos sind diese Augen, die nun zu flackern, zu blinzeln beginnen. «Was

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