Lemmings Zorn
Lehner hat den Arm des Lemming gepackt, bereit, ihm das Handy vom Ohr zu reißen.
«Gar nirgends hin! Wenn du die künftige Frau
Wallisch
sein willst, musst du dich daran gewöhnen, dass ich dir keine Rechenschaft schulde!»
Während Lehner fürs Erste besänftigt scheint, kann der Lemming ein Murmeln im Hörer vernehmen: «Angela Lehner …Natürlich: die G’schicht in der Christnacht. Und dann dieser Wallisch: der Neffe vom Hofrat Sabitzer …»
«Bin ich nicht! Oder glaubst du, ich wär jetzt nicht auch lieber z’Haus und tät gemütlich mit dir plaudern?»
«Versteh schon, Herr Wallisch: Sie können nicht reden …»
«Pass lieber auf, was ich sag, ich hab nicht viel Zeit!»
«Alles klar, Herr Wallisch. Ich höre.»
«Gut! Du musst was für mich tun, verstehst du?»
Ein drohender Blick aus den Augen Frank Lehners: wieder dieser Peter-Lorre-Blick.
«Ich hab nämlich vergessen, den … Flug zu bezahlen.
Kairo
, du weißt schon …»
«Kairo?»,
fragt Polivka. «Das in Ägypten?»
«Nein! Die erwarten mich drüben im Reisebüro. Noch heute, bis spätestens sechs!»
«Das ist schon in zwanzig Minuten, Herr Wallisch.»
«Ganz recht! Du musst dich beeilen!»
«Ja, aber wohin denn? Wohin soll ich …»
«Peregrin!»,
ruft jetzt der Lemming. «Flugreisen
Peregrin
, gleich um die Ecke!»
«Sie meinen … den
heiligen Peregrin
, in der Servitenkirche?»
Volltreffer. Bingo. Mag sein, dass Polivka den Schutzpatron der Serviten nur deshalb kennt, weil sich die Räume der Mordkommission in der Berggasse, also in unmittelbarer Nähe der Kirche, befinden. Vielleicht ist der Bezirksinspektor aber auch ein religiöser Mann – im Unterschied zu Lehner, der ja nicht einmal weiß, in welchem Bezirk das Dominikanerkloster steht. Bisweilen (und selten genug) kann ein Minimum an christlicher Sozialisation eben auch von Vorteil sein.
«Genau!» Der Lemming atmet auf. «Also schaust du dort rasch noch vorbei? Sonst können wir Kairo vergessen.»
«Peregrin … Kairo … Aha! Das Café
Kairo
auf dem Kirchenplatz!»
«Richtig! Und? Geht sich das aus bei dir?»
«Ich weiß zwar nicht, was Sie genommen haben, aber … Ich werde dort sein, Herr Wallisch.»
«Danke. Da bin ich beruhigt … Ja, sicher: Ich hab dich auch lieb, mein Schatz.»
Ein Grunzen am anderen Ende. Ohne ein weiteres Wort legt der Bezirksinspektor auf. Ein Bezirksinspektor, der – wer könnte je daran zweifeln? – ein Genie ist, kein Trottel.
Der Lemming sieht Frank Lehner an und zuckt die Achseln. «Unser Urlaub», sagt er. «Ägypten im Frühling, schon lange geplant. Wir zwei und der Kleine …»
«Mit Speckkraut und Knödeln!», schnattert die Frau mit dem Schultersack. «Bärli, mein Fleischtiger! Ja, i bin eh gleich z’Haus!»
Eine knappe halbe Stunde später tauchen der Lemming und Lehner, soeben der U-Bahn entstiegen, in die Häuserschluchten des Servitenviertels ein. Die Stimmung ist merklich getrübt, beinahe schon feindselig.
«Was soll das heißen, aufs Klo? Ausgerechnet jetzt?» Frank Lehner schnaubt auf.
«Glauben S’ vielleicht, dass drei Kaffee und fünf Gläser Raki spurlos an mir vorübergehen?», gibt der Lemming ärgerlich zurück. «Ich bin sowieso gleich zurück, keine Sorge. Sie können ja hier auf mich warten …» Er beschleunigt seine Schritte, steuert durch die Grünentorgasse in Richtung Kirchenplatz.
«Aber sicher nicht!», ruft Lehner. «Ich komme mit!» Schon hat er den Lemming eingeholt und stapft mit grimmigen Blicken neben ihm her.
So gehen sie nun aufs Café
Kairo
zu: ein Gespann, dessen Bündnis Vergangenheit ist, ein Paar, dessen Kampf um die Beute begonnen hat. Frank Lehner schreitet zügig aus, während der Lemming versucht, ihn möglichst nahe an der Hausmauerentlangzuführen: Zu verräterisch ist der blinkende Schriftzug über der Tür des Cafés, dieses signalrote
KAIRO
. Doch wie durch ein Wunder liegen die Lettern im Dunkel: Die Neonröhren sind erloschen.
Rauchschwaden. Stimmengewirr. Im
Kairo
herrscht Hochbetrieb. Die Büros und Läden haben eben erst geschlossen, und so findet man sich hier zusammen, um – bei einem Glas Bier oder Wein – den Feierabend zu begehen. Was nichts anderes heißt, als Abend für Abend aufs Neue zu feiern, dass ein weiterer Tag überstanden, eine weitere kleine Etappe auf dem Weg in die Rente geschafft ist.
Der Mann jedoch, der in der Ecke gleich hinter dem Eingang sitzt, hat seinen Dienst noch nicht beendet, auch wenn
Weitere Kostenlose Bücher