Lemmings Zorn
… Das … verstehe ich nicht …», stottert Smejkal. «Sie sind doch … Sie sind doch der … Wie kommen
Sie
…?» Er macht einen schwankenden Schritt auf das Bett zu.
«Ihre Tochter, Herr Smejkal, war nicht verrückt.» Der Lemming spricht langsam, mit schneidendem Unterton. «Sie war nur eine stolze Frau mit einem großen gebrochenen Herzen:ein trauriger Engel. Ja, Herr Smejkal: Sie haben einen Engel ermordet. Den Schutzengel meines Sohnes. Meines Sohnes Benjamin …»
Es ist ein stummes, erschreckendes Schauspiel, das sich im Laufe der nächsten Sekunden entspinnt: Smejkal steht anfangs noch unbewegt. Scheinbar erstarrt. Wie ein Gefäß, in das jetzt – nach und nach – die Wahrheit tröpfelt. Wie ein Gefäß, das diese klare und ätzende Wahrheit aber nicht fassen kann. Weil sie es von innen her zerfrisst.
Mit einem Mal regen sich fremde, nie gekannte Muskeln in Smejkals Gesicht, verzerren es zur spukhaften Fratze. Die pergamentene Haut zieht sich krampfhaft zurück, die Augen, die Zähne treten hervor, als würde er … Ja, als würde er lachen, der Alte: ein Lachen, das dem versteinerten Grinsen eines Totenschädels gleicht.
Bestürzt folgt der Lemming der schaurigen Transformation. In den Ekel, den er vor Smejkal empfindet, mischt sich nun doch auch so etwas wie Mitgefühl: Mitleid mit diesem verknöcherten Monstrum, diesem widerlichen Frömmler, diesem arroganten Exorzisten, der sich selbst der größte Dämon ist.
Auch Frank Lehner scheint sich inzwischen ein wenig beruhigt zu haben. Er mustert Smejkal mit den Blicken eines Bauern, der seine verdorbene Ernte betrachtet. «Hast du gehört, alter Mann? Du hast einen Engel zur Hölle fahren lassen …»
Dass Lehner mit keiner Erwiderung rechnet, versteht sich von selbst. Genauso wenig wie ein Bauer, der mit seiner Ernte spricht. Die Antwort kommt trotzdem – vom Lemming, der jetzt das Bett umrundet und an Lehners Seite tritt.
«Tun Sie mir einen Gefallen», raunt er. «Gehen Sie hinaus, nur fünf Minuten. Drehen S’ eine Runde.»
«Aber … Wieso?»
«Weil ich allein mit ihm reden will. Falls er irgendetwas weiß,verstehen Sie, etwas, das uns weiterhelfen könnte, wird er es
Ihnen
ganz sicher nicht sagen.»
Ein langer, prüfender Blick, dann ein zögerndes Nicken. «Meinetwegen, Herr Wallisch. Aber wenn Sie auch nur daran denken, hier ohne mich loszuziehen …»
«Glauben S’ denn wirklich», zischt der Lemming, «dass ich Sie mit dem Alten allein lassen tät? Damit Sie ihn letztendlich doch noch erwürgen?»
Und wieder ein Nicken. «Da haben Sie allerdings recht, das könnte passieren. Obwohl man ja ein Wrack im Grunde gar nicht mehr versenken muss.» Mit diesen Worten wendet sich Lehner dem Ausgang zu. Festen Schrittes verlässt er den Raum wie ein Mann, der schon längst wieder andere Ziele verfolgt. Die Ratte zum Beispiel, die das Schiff überhaupt erst zum Sinken gebracht hat.
«Töten Sie mich …»
Die Stimme Paul Smejkals ist leise und zittrig.
«Ich bitte Sie, töten Sie mich.»
Er steht noch immer so da wie zuvor, in derselben, leicht gebeugten Haltung. Nur seine Hände hat er inzwischen gefaltet, reckt sie jetzt flehend dem Lemming entgegen.
«Töten Sie mich …»
«Einen Dreck werd ich tun.» So derb wie sein Tonfall, so grob packt der Lemming den Alten am Arm und drückt ihn hinunter aufs Bett. «Einen Dreck. Ihre Hölle ist eindeutig überbelegt, und ich mag kein Gedränge.»
«Die Hölle ist aber …
hier
. Hier auf Erden …»
«Das stimmt. Für die Angela war sie das.» Der Lemming schüttelt den Kopf. Er lässt sich neben Smejkal auf die Bettkante sinken. «Weil sie von Geistern umgeben war, die stets verneinen …»
Ein leiser Klagelaut; der Alte vergräbt das Gesicht in den Händen. Und wieder wallt dieses lästige Mitgefühl im Lemmingauf – in der Art eines Sodbrennens, das ja erst eintritt, wenn man den sauren Wein schon getrunken hat. Das einen niemals zu warnen pflegt, nur zu bestrafen.
«In diesem Fall», murmelt der Lemming, «waren Sie ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und … einmal doch das Gute schafft. Ihre Tochter, Herr Smejkal, war sterbenskrank. Sie hätte gelitten, auch körperlich. Furchtbar gelitten. Wenigstens das haben Sie ihr erspart.»
Paul Smejkal hebt den Kopf. «Umso schlimmer», schnarrt er verbittert. «Es steht uns nicht zu, dem Allmächtigen ins Handwerk zu pfuschen.»
«Verstehe.» Der Lemming schnaubt
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