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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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einmal einheizen drüben, der Durchlauferhitzer ist schon lange desolat, wer weiß, ob er überhaupt anspringt. Und bis dahin   …»
    «Bis dahin?»
    Wie auf ein Zeichen sehen sie Benjamin an. Er schlummert an der Brust des Lemming, aber sein Schlaf ist unruhig: Die Lider und Mundwinkel zucken, hin und wieder dringen verhaltene Klagelaute aus seinem halbgeöffneten Mund.
    «Kannst du ihn nehmen? Nur für zwei Stunden oder so, bis ich drüben alles hergerichtet hab.»
    So seltsam es ist, aber Angela zögert. Sie zieht die Schultern hoch wie ein verängstigtes Kind, das ein Fremder mit Naschwerk zu locken versucht. «Du   … Du meinst, nur ich und   … er?» Furchtsam flackern ihre Augen, ihr Gesicht ist mit einem Mal wächsern und fahl. «Ich bin nicht sicher, ob ich   … ob ich das kann, so ganz alleine.»
    «Wer sonst als du? Ben liebt dich über alles und   … Ich weiß, dass er bei dir in guten Händen ist.»

6
    Als der Lemming schwer bepackt das Foyer seines Hauses betritt, strahlt ihm ein hellerleuchtetes Geviert entgegen: die offene Kabine eines neuen Aufzugs, eines blechernen Kolosses, dessen Schacht futuristisch nach oben ragt wie die Abschussrampe einer Mondrakete. Nur dass dieses außerirdische Gerippe auf einer allzu irdischen Müllhalde steht: Nach wie vor regiert der Schmutz im Stiegenhaus, Berge von Schutt, von zerbrochenen Ziegeln und Gipsplatten säumen die Gänge, dicke Zementspuren ziehen sich in den mit Staub überzogenen Fahrstuhl. Man kann ihn bestenfalls als Spiegelkabinett benutzen:
Lift kaputt!,
liest der Lemming auf einem am Schaltbrett befestigten Zettel. Das daruntergeschriebene
Kein Material transportieren!
ist zwar mit schwarzem Filzstift übermalt, aber immer noch lesbar. Wenn schon keinem anderen, so ist es wenigstens dem Bauherrn recht und billig, sich seinen Lastenaufzug von den Mietern finanzieren zu lassen   …
    Fünf Minuten später stellt der keuchende Lemming sein Gepäck vor der Wohnungstür ab. Weder Bens Kinderwagen noch der Tragesack sind mit dabei, geschweige denn Benjamin selbst: Angela hat sich am Ende doch noch dazu überreden lassen, auf den Kleinen achtzugeben. Sie hat ihn dem Lemming abgenommen, vorsichtig und zögerlich, mit linkischen Bewegungen, so als hätte sie ihn nicht schon hundertmal im Arm gehalten. Im selben Augenblick ist Ben erwacht, die blassen Lippen jammervoll verzogen. Doch noch bevor er in Tränen ausbrechen konnte, entdeckte er den roten Engel über sich – und fing zu lächeln an.
    «Frohe Weihnachten», hat Angela ihm zugeflüstert, und: «Ich hab da was für dich.» Sie hat ein Päckchen aus ihrer Jacke gezogen, Seidenpapier, von einer blauen Schleife zusammengehalten.
    «Da», hat Ben gesagt. Er hat mit seinen kleinen Fäustlingen nach dem Geschenk gegriffen, hat es gedrückt und geknetet,bis das Papier zerrissen ist. «Da.» Eine Matrjoschka ist zum Vorschein gekommen, eine jener liebevoll bemalten russischen Holzpuppen, die – ineinander geschachtelt – eine Vielzahl immer kleinerer in ihrem Inneren bergen.
    «Eine Babuschka», hat Angela gemeint. «Die kann man auseinandernehmen. Ich zeig’s dir dann, wenn wir bei mir sind.»
    «Da!» Ben hat gestrahlt. Er hat die Puppe nicht mehr losgelassen.
     
    Vorsichtig schiebt der Lemming jetzt den Schlüssel ins Schloss, nachdem er sich vergewissert hat, dass es auch wirklich der richtige ist. Die Luft, die ihm entgegenschlägt, ist kühl und modrig, über die Decke des Vorzimmers ziehen sich gelbliche Wasserflecken. Der Lemming öffnet die Fenster, geht dann in den Abstellraum, um die Therme einzuschalten. Ein rotes Lämpchen leuchtet auf: Die Heizung verweigert den Dienst.
    Zwei Stunden später erst kriegt der Lemming die widerspenstige Apparatur in den Griff. Er hat Gebrauchsanleitungen studiert und Sicherungen ausgewechselt, Knöpfe gedrückt und Rädchen gedreht, er hat den Thermostat zerlegt, frisches Wasser in die Leitungen gepumpt und die Radiatoren entlüftet.
    «Du Dreck, du verkackter!»
    Ein Faustschlag gegen die Therme: plötzlich das neckische Zirpen des Zünders, der wunderbare, an fernen Donner gemahnende Klang des entflammenden Gases. Es ist kurz vor elf. Das Handy läutet.
    «Wo seids ihr denn, um Gottes willen?»
    Klara, natürlich. Er hat vergessen, Klara anzurufen.
    «Es tut mir so leid   … Bist du jetzt wieder in Ottakring?»
    Die Frage hätte sich der Lemming sparen können: Deutlich kann er das Rattern der Baumaschinen im Hintergrund hören.
    «Ja, sicher!

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