Lemmings Zorn
nach Luft.
«Und wie heißt er weiter, der Frost? Franz Frost? Jack Frost?»
Unverständige Blicke. «Wie meinen S’ das?»
«Der Trupp, der da gestern schon aufg’rissen hat! Ihre Kollegen! Glauben S’, das ist ein Zufall, dass jetzt was kaputt ist?» «Davon weiß ich leider nichts! Wir tun nur, was uns auf’tragen wird!»
«Okay! … Okay …» Der Lemming schließt die Augen, er versucht sich zu beruhigen. «Okay … Eine einfache Frage: Wie lange! Wie lange werden Sie brauchen?»
«Schwer zum sagen! Weil jetzt müssen wir zuerst einmal den Schaden suchen! Wohnen Sie ’leicht da?» Der Arbeiter zeigt auf Klaras winterlichen Garten, auf das idyllisch verschneite Haus.
«Ja! Warum?»
«Da werden S’ ka Freud haben, lieber Herr! Wir haben Ihnen’s Gas abdrehen müssen!»
Dem Lemming ist das Brüllen mit einem Mal vergangen; er klappt nur noch den Mund auf und zu wie ein jählings dem Wasser entrissener Fisch. Trotzdem liegt nun ein Heulen und Klagen in der Luft: Castro winselt leise vor sich hin, und Ben fängt jämmerlich zu weinen an. Fürwahr, es ist eine Nacht der Bescherungen.
«Ist ja gut … Ist ja gut, mein Schatz, gleich kriegst du was.» Mit dem linken Arm wiegt der Lemming den schreienden Ben hin und her, mit der rechten Hand zieht er das Milchfläschchen aus seinem Hosenschlitz. Vor zehn Minuten hat er es hier eingeklemmt, zwischen den Schenkeln, nahe am Gemächt, an der wärmsten Stelle des gesamten Hauses also.
Ja, es ist kalt in den alten Gemäuern. Während Ben mit der Gier des Verhungernden an seinem lauwarmen Fläschchen saugt, starrt der Lemming auf die Ente, die nach wie vor im Bräter wartet. Es ist eine Ente mit Gänsehaut.
Nein, es gibt keinen Holzofen mehr in Klaras Küche. Voriges Jahr erst, Anfang Oktober, haben der Lemming und Klaraden neuen Herd angeschafft. Flammen und Backrohr sind nun – wie auch der Rest des Hauses – mit Gas geheizt: Werdende Eltern fallen fast immer einem unüberwindlichen Modernisierungsdrang zum Opfer, so als wollten sie Schritt halten mit einer Zukunft, die noch gar nicht begonnen hat. Nestbautrieb nennt man das wohl.
Ja, es ist hoch an der Zeit, etwas zu unternehmen. Castro kauert mit eingezogenem Schwanz in der Ecke, Ben trinkt soeben das Fläschchen leer: Aus seiner kleinen, geröteten Nase steigen noch immer Kondenswölkchen auf. Draußen rattern die Maschinen, dass die Scheiben klirren.
Eine Reisetasche. Birnenmus, Milchpulver, Haferflocken. Eine Batterie von Gläsern mit Gemüsebrei. Drei saubere Fläschchen, eine Zehnerpackung Windeln. Besser zwei, zur Sicherheit. Feuchttücher, Babyöl. Kleidung natürlich: Strampelhosen, Strumpfhosen, Latzhosen, Socken, Pullover.
Gut, also zwei Reisetaschen. Spielzeug: der Stoffbär, die Spieluhr, die peruanischen Rasseln. Bens geliebte Elefantendecke. Die Weihnachtsgeschenke, die noch im Schrank oben liegen. Futter für Castro. Futter auch für Klara und ihn selbst: Milch und Brot, Butter und Eier. Wein und Kaffee. Was geschieht mit der gestopften Ente?
Drei Reisetaschen.
Kurz entschlossen zieht der Lemming sein neues Handy aus dem Mantel. Wann sonst als zu Weihnachten sollte man seinen Schutzengel rufen?
«Ja?» Müde klingt Angelas Stimme, traurig und abgespannt. «Angela? Poldi hier. Entschuldige bitte, ich weiß, das ist ein unmöglicher Zeitpunkt, du feierst wahrscheinlich gerade mit deiner Familie …»
«Nicht wirklich.» Ein kurzes, bitteres Lachen, ein Schnauben schon mehr. «Wie geht’s denn dem Kleinen?»
«Es geht», sagt der Lemming. «Aber nicht mehr sehr lange, wie’s ausschaut. Wir könnten Hilfe brauchen.»
«Mein Gott … Was … Seid ihr daheim?»
«Grundsätzlich schon. Es fühlt sich aber nicht so an.»
«Bleib da. Ich komm sofort.» Schon hat der rote Engel aufgelegt.
«Sie töten den Geist und die Würde, ersticken uns Freude und Licht, zertreten die Liebe und Güte, sie töten – und wissen es nicht …» Angela Lehner verstummt und sieht den Lemming lange an. In ihrem Blick liegt mehr als freundliches Bedauern, mehr als Mitgefühl. Es ist das pure Mitleid, das aus ihren Augen spricht, ein dunkles und tiefes Verstehen. «Was kann ich tun?», fragt sie jetzt leise. «Ich würd euch ja gern mit zu mir nehmen, aber …»
«Nein, nein, das ist gar nicht nötig.» Der Lemming winkt ab. «Ich hab doch noch meine Wohnung im Neunten. Nur … Ich schaff das nicht alleine. Das Kind, der Hund, das ganze Gepäck. Und dann muss ich erst
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