Lemmings Zorn
Ein einziger Horror ist das hier, ich kann dich kaum verstehen! Also was ist? Wo steckts ihr?»
In kurzen Worten beschreibt der Lemming die Ereignisse der letzten Stunden, um – nicht ohne Stolz – hinzuzufügen: «Ich glaub, es wird schon langsam warm hier.»
«Und der Kleine?»
«Den hol ich jetzt.»
«Okay … Wo wohnt denn die Angela überhaupt?»
«Sie logiert momentan bei ihren Eltern, hat sie gesagt. Am Bruckhaufen drüben, an der Alten Donau. Wart, ich hab’s mir aufgeschrieben … Paul und Anna Smejkal, Ecke Sandrockgasse, Friedstraße.»
«Ich kann nur hoffen, das stimmt», murmelt Klara. «Ich würd dich am liebsten begleiten, aber …»
«Aber?»
Klara bleibt die Antwort schuldig. «Sag, Poldi, geht dir vielleicht etwas ab?», fragt sie stattdessen.
«Ich … Nicht dass ich wüsste … Die Ente hab ich mitgenommen.»
«Knapp daneben, mein Lieber. Flügel hat es zwar keine, aber ein Ofen tät ihm jetzt trotzdem gut. Deshalb fahr ich jetzt auch direkt in den Neunten.»
«Aber was …?»
«Du wirst schon noch draufkommen. Also bis später dann.» Klara hat aufgelegt.
Grübelnd geht der Lemming aus dem Haus, grübelnd eilt er zum Taxi. Grübelnd sitzt er auf der Rückbank, während der Wagen durch die frostklare Nacht fährt. Dann fällt es ihm ein.
«Scheiße …» Er schließt die Augen und schüttelt den Kopf. «Das gibt’s doch nicht … Castro …»
Jede Insel ist ja gewissermaßen ein Haufen, während bei weitem nicht jeder Haufen eine Insel ist. Der Floridsdorfer Bruckhaufenkann beide Attribute für sich in Anspruch nehmen: Eingeklemmt zwischen dem Donau-Entlastungsgerinne und der im Zuge der ersten Flussregulierung stillgelegten Alten Donau, bildet er den nordwestlichen Teil eines künstlichen Eilands, das den Wienern ursprünglich als Mülldeponie diente. Ein Misthaufen also, nahe dem Zentrum und doch im grünen Erholungsrevier Transdanubiens gelegen. Kein Wunder, dass hier, auf dem Abfall der Ahnen, vor knapp hundert Jahren ein beliebtes Wohngebiet entstanden ist. Die Siedlung Bruckhaufen gleicht auf den ersten Blick einer Schrebergartenkolonie: Gleichförmig abgezirkelt sind die Gärten, bescheiden die Häuser, die darin stehen. Eine ruhige, fast ländliche Atmosphäre, ganz besonders in dieser malerisch verschneiten Heiligen Nacht.
«So bitte, da sind wir.» Der Taxifahrer steigt jäh auf die Bremse, um auf diese Art den Wagen noch mehrere Meter durch die menschenleere Sandrockgasse schlittern zu lassen. Ein weiterer dezenter Hinweis auf die meteorologischen Unwägbarkeiten, denen er sich – seinem Fahrgast zuliebe – ausgesetzt hat. Diesmal aber droht sich sein Manöver zum Wink mit dem Zaunpfahl auszuwachsen: Haarscharf schrammt er jetzt nämlich an einem solchen vorbei. «Uijegerl, das war knapp … Das hätt mir noch g’fehlt … Grad heut, wenn alle anderen daheim mit ihrer Familie …» Der Fahrer dreht sich mit traurigen Augen zum Lemming um: «Macht vierzehn achtzig, der Herr, und fröhliche Weihnachten.» Er gähnt.
Wetterzuschlag, rechnet der Lemming. Weihnachts- und Mitternachtsbonus. Zuzüglich einer gebührenden Prämie für Schwermut und entgangene Familienfreuden. Er reicht dem Fahrer einen Zwanziger nach vorne. «Wenn S’ mir bitte auf achtzehn … Ach, was, stimmt schon so.»
Ein wenig mulmig ist dem Lemming schon, als er aus dem Taxi steigt. Die zuvor von Klara angedeuteten Bedenken waren nicht ganz unberechtigt: Was, wenn Angela Lehner gar nichthier wohnt? Wenn sich der Engel als Teufel entpuppt, der nur auf die Chance gewartet hat, Ben in seine Gewalt zu bringen? Kann man denn sein Kind so einfach jemandem anvertrauen, über den man – trotz aller Sympathie – kaum etwas weiß? Andererseits: Wann weiß man genug über jemanden, um sich getrost auf ihn verlassen zu können? Wenn man seinen Ausweis überprüft hat? Seine ärztlichen Atteste? Wenn man sein Konto kennt oder sein Bett?
Fam. Paul Smejkal
steht auf einem kleinen Messingschild, das neben dem Gartentor Ecke Friedstraße angebracht ist. Immerhin, denkt der Lemming, so weit stimmen Angelas Informationen. Er betrachtet das Haus, das sich hinter dem Zaun erhebt. Zwei Stockwerke hoch, spartanisch und schmucklos, ein typischer Bau aus der Nachkriegszeit: hässlich, aber robust. Die Fassade schimmert gelbgrau im trüben Laternenschein, die Fenster dagegen sind dunkel: Nichts lässt darauf schließen, dass jemand daheim ist. Trotzdem kein Grund zur
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