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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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dann,
    Klara
    Diesen Zettel hat er auf dem Esstisch gefunden, als er mit Ben in die Wohnung zurückgekehrt ist. «Es lässt mir keine Ruhe   …», hat er Klaras Worte leise wiederholt.
Es?
Oder
er
, der Nachbar, dieser kleine, emsige Kirschholzwichtel? Und dann ist sein Blick durch das Zimmer gewandert, das düster war und leer und nur vom stetigen Klopfen, Schaben und Bohren jenseits der Mauer durchhallt. Der Lemming ist gleich wieder wütend geworden. Kurz entschlossen hat er zum Telefonbuch gegriffen. «Bauser, Ferdinand   …» Nein, kein Eintrag zwischen Baurnschmidt und Bauta. Auch eine Maria Besi war hier nicht verzeichnet. Die Adresse des Briefträgers Prantzl hingegen hat er auf Anhieb gefunden: Herbert Prantzl, Siebensterngasse, nicht allzu weit von Farnleithners Lokal entfernt. Wenigstens etwas.
     
    «Geh, Benjamin   …» Der Lemming bückt sich und klaubt mit spitzen Fingern die russische Puppe aus dem Rinnstein. Wischt sie mit einer Stoffwindel ab und drückt sie dem Kleinen wieder in die Hand. «Wir sind ja gleich da; dann kannst du nach Herzenslust mit Silberlöffeln werfen oder mit Tiroler Bleikristall.»
    «Uh! Uh!», ruft Ben und rudert mit den Armen. «Udlu Daddn!» Er jauchzt auf und wirft die Puppe wieder in den Matsch.
    Am Rande des kleinsten Wiener Bezirks befindet sich also das
Deli Farnleithner
. Die Josefstadt ist ein verträumter, verwinkelter Stadtteil, ein Viertel, das sich noch das Flair der guten, alten Zeit bewahrt hat: Hinter den zierlichen Fassaden, die die engen, gepflasterten Gassen säumen, hat sich vor knapp zweihundert Jahren das Bürgertum seine lauschigen Nester gebaut. Hier, in seinem ganz privaten Idyll, wähnte man sich geborgen vor den Spitzeln des Staatskanzlers Metternich, vor der Verfolgung durch seine Geheimpolizei. Die stete Bedrohung durch Lauscher und Naderer, gepaart mit dem Slogan
Mehr privat, weniger Staat
: Alles in allem ein Zustand, den man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann   …
    Der Lemming stapft die Tulpengasse entlang, biegt in die Lenaugasse und wuchtet den Buggy die Stufen zum Portal des
Farnleithner
hinauf. Das Glück im Unglück ist ihm hold: Zwar hat das Lokal noch nicht geöffnet, aber durch die Glasscheibe der Eingangstür kann er eine dünne blonde Frau erkennen, die sich hinter der wuchtigen Teakholztheke zu schaffen macht.
    Der Lemming klopft, die Frau blickt auf. Sie deutet auf ihr Handgelenk und wendet sich dann wieder ihrer Arbeit zu.
    Der Lemming klopft, die Frau blickt auf. Sie verzieht das Gesicht, schüttelt den Kopf und beugt sich abermals über den Schanktisch.
    Der Lemming klopft, die Frau blickt auf. Mit energischen Schritten kommt sie jetzt hinter der Budel hervor, offenbar bereit, nun doch die Tür zu öffnen, und sei es auch nur, um sie dem renitenten Quälgeist ein für allemal zu weisen.
    «Wir haben geschlossen! Verstehen Sie das nicht?»
    «Doch, doch. Ich hatte nur gehofft, den Chef anzutreffen.» Unverblümt kritisch mustert die Blonde den Lemming, lässtihren Blick das unrasierte Gesicht und den Mantel hinab bis zu den fingerlosen Wollhandschuhen gleiten. Der Kinderwagen interessiert sie nicht, genauso wenig wie das Kind darin. Babykleidung, so scheint sie zu denken, ist grundsätzlich schmuddelig, schrill und geschmacklos; sie lässt daher keinerlei Schlüsse auf Herkunft, Status und Bankkonto ihres Besitzers zu. Ganz anders das Outfit des Lemming: Wer sich so auf die Straße wagt, gehört ganz sicher nicht zur Kundschaft des
Farnleithner
, und die Frau lässt keinen Zweifel daran, dass das nach ihrer Ansicht auch tunlichst so bleiben soll.
    «Mein Mann ist nicht da», sagt sie schnippisch. «Was wollen Sie denn von ihm?»
    «Nur eine Auskunft.»
    «Wir sind kein Auskunftsbüro. Und auch kein Kindergarten.» Schon macht sie sich wieder daran, die Tür zu schließen.
    «Warten Sie!» Der Lemming hält von außen dagegen, schiebt im letzten Moment seinen Schuh in den sich verengenden Türspalt. «Es ist wichtig. Wirklich wichtig! Liechtensteinpark, verstehen Sie?»
    Ein Ruck geht durch die Frau: Gerade noch sichtlich gewillt, den Lemming mit weiteren Impertinenzen zu bedenken, zuckt sie zusammen. Ihr anorektischer Körper versteift sich, die stechenden Augen verkriechen sich flugs in ihren Höhlen, um daraus hervorzulugen wie kleine und giftige, aber auch ängstliche Tiere: ein jäher Umschwung von Arroganz zu verschreckter Gehässigkeit, wie der Lemming mit Wohlgefallen vermerkt.
    «Liechtensteinpark», sagt

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