Lemmings Zorn
brauchen. Weil wir darauf gehofft haben, sie wenigstens heute, am Christtag, zu bekommen!»
Ist es denn wirklich noch möglich, den Vorwurf, der in diesen Worten liegt, zu überhören? Kann sich der Beschuldigte inAnbetracht dieser emphatischen Anklage noch immer unbeteiligt geben? Ja, er kann: Emphase ruft nicht notgedrungen Empathie hervor.
Lärm ist das Geräusch der anderen
, hat Kurt Tucholsky einmal geschrieben, und so vermag sich der andere, nämlich der Nachbar, nicht im Geringsten vorzustellen, was der eine, nämlich der Lemming, von ihm will.
«Das tut mir aber leid für Sie», meint er in jenem argwöhnisch-sanften Tonfall, den man in der Regel bei verirrten Psychopathen und entflohenen Gewaltverbrechern anschlägt. «Und für den Kleinen natürlich. Ich würde Sie ja gern zu mir herein … Nur leider ist es heute auch bei mir ein wenig laut.»
«Ach, wirklich? Auch bei Ihnen? So ein Zufall! Könnte es vielleicht sein, dass Sie hier die gleichen Geräusche hören wie wir drüben?»
«Aber nein!» Der Bebrillte lacht auf. «Ich bin nur grad am Basteln, wissen Sie? Eine neue Bücherwand fürs Wohnzimmer. Kirsche, Vollholz, wunderbar gemasert. Und alles selbst geplant, nicht einfach aus dem Möbelhaus. Wenn einer handwerklich was drauf hat, schafft er das in, sagen wir, zwei bis drei Wochenenden. Oder eben in den Ferien, weil sonst, nach der Arbeit, bin ich meistens schon zu müd dazu. Aber … Kommen S’ einfach weiter, schauen Sie selbst: Das Kirscherl ist wirklich eine Augenweide.» Vom eigenen Enthusiasmus mitgerissen, tritt der Nachbar zur Seite und gibt den Weg in sein Vorzimmer frei.
«Danke, aber ich … Wir wollen Sie nicht aufhalten», murmelt der Lemming betreten.
«Na, dann machen wir’s doch so: Ich zeig Ihnen mein Prachtstück, wenn es fertig ist. Im neuen Jahr dann. Kommen S’ einfach vorbei, wenn Sie Lust haben. Ja?»
«Ja … Aber …»
«Sehr schön. Dann fröhliche Weihnachten noch.»
«Ja … Fröhliche Weihnachten …»
9
Der Schneefall verhält sich zu Wien wie das Laster zum Alter. Hier wie da wird die Ausschweifung Jahr für Jahr seltener, hier wie da führt eine kurze Trunkenheit zum immer längeren Kater. Was dem betagten Nachtschwärmer sein Kopfweh, das ist der Stadt ihr rußiger, nasskalter Schneematsch, der die Schwermut ins Unermessliche treibt. Früher, so ist man zu glauben geneigt, da hat die Natur noch Spaß daran gehabt, hin und wieder die Muskeln spielen zu lassen; mit einem Augenzwinkern hat sie den Menschen, dieses possierliche, aber auch lästige Schoßtier, in seine Schranken gewiesen. Tagelang hat es damals noch durchgeschneit, flauschig und sanft hat das Himmlische das Profane, das Prächtige das Opportune zum Stillstand gebracht. Die am Straßenrand geparkten Autos verwuchsen nicht selten zu meterdicken, schier endlosen Weißwürsten; wer da noch versuchte, seinen Wagen aus dem Schnee zu graben, tat es höchstens, um die vergessenen Fäustlinge aus dem Handschuhfach zu holen. Auch die Schneepflüge hatten ja kapituliert; sie hatten die Fahrbahnen, diesen Tummelplatz der Wettergötter, längst verloren gegeben. Statt jedoch über verpasste Termine und entgangene Profite zu verzweifeln, wurden die Wiener an solchen Tagen von selbstironischer Heiterkeit ergriffen, von jener Art nur scheinbar bedauernden Gleichmuts, den sie seit jeher empfinden, wenn etwas größer und mächtiger ist als sie selbst. Fröhlich, hell und still war die Stadt; so zauberhaft still, dass man Watte in den Ohren zu haben vermeinte.
Aber auch die Natur scheint mittlerweile gealtert zu sein: Der Humor ist ihr vergangen. Deshalb lässt sie die Straßen und Gassen nach jeder ihrer halbherzigen Kapriolen im kollektiven Katzenjammer versinken. Was bleibt, ist die Hoffnung auf baldige Wiederbetäubung und Wiederbestäubung, die Aussicht auf das nächste Achtel, um den Kopfschmerz, auf den nächsten Schneefall, um die Hässlichkeit des winterlichen Wien zu übertünchen.
Grau sind die Wolken über dem Lemming, grau die Häuser, die ihn umgeben, grau auch der halbgefrorene Schlamm, durch den er Benjamins Buggy schiebt. Grau ist nicht zuletzt der Lemming selbst: Der Groll und die Müdigkeit stecken ihm tief in den Knochen, und auch das Ziel dieses vormittäglichen Ausflugs verspricht keine Ermunterung:
Deli Farnleithner
, die angesagteste Location der Society.
Es lässt mir keine Ruhe, mein Lieber.
Ich fahr jetzt mit Castro zu Angelas Eltern.
Küsse, bis später
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