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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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er noch einmal, und er tut es (ähnlich einem Kind, das mit Hilfe eines Grashalms eine Schnecke dazu bringt, die Fühler einzuziehen) aus reiner Lust am biologischen Vorgang, den er mit diesem Wort bewirkt. «Liechtensteinpark.» Der Lemming schmunzelt.
    «Ich hab schon verstanden!», faucht die Blonde entnervt zurück.Obwohl sie sich nach wie vor gegen die Tür stemmt, scheint sie abzuwägen, wie nun weiterzuverfahren sei. «Geben S’ mir halt   … Ihre Nummer», sagt sie schließlich. «Der Herr Farnleithner meldet sich bei Ihnen.» Statt aber den Druck auf die Tür zu verringern, streckt sie nun die rechte Hand durch den Spalt und zuckt fordernd mit den Fingern.
    «Moment   …» Der Lemming tastet seine Manteltaschen ab, zieht schließlich ein zerknittertes Taschentuch und einen Filzstift hervor und schreibt seine Handynummer auf.
    «Bitte.» Er lässt das Taschentuch in die Hand der Frau gleiten. «Und wie gesagt, es ist wirklich dringend, ich wäre also dankbar, wenn   …»
    Ihr stummer, hasserfüllter Blick bringt ihn zum Schweigen. Glücklicherweise, so fährt es ihm durch den Kopf, befindet sich die schwere Glastür zwischen ihm und der Farnleithnerin: Ähnlich jenen rußgeschwärzten Brillen, durch die man – anlässlich diverser astronomischer Ereignisse – unbeschadet in die Sonne sehen kann, scheint sie das tödliche Gift aus den Augen dieses blonden Basilisken zu filtern. Man wäre sonst wahrscheinlich schon zu Stein erstarrt oder zumindest erblindet.
    «Und jetzt», das Medusenhaupt zischt einen feinen Sprühregen gegen die Scheibe, «schauen Sie, dass Sie weiterkommen. Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, mach ich Ihnen eine Szene, die Sie ihr Lebtag nicht vergessen werden!»
    «Ach!» Der Lemming wirft den Kopf in den Nacken und schlägt sich mit der flachen Hand an die Stirn. «Jetzt versteh ich endlich!»
    «Was? Was verstehen Sie?», fragt die Frau irritiert.
    «Warum man diese Art von Wirtshaus auch
Szenelokal
nennt.» Mit einer formvollendeten Verbeugung zieht der Lemming seinen Fuß zurück. Ein Ruck, ein kurzes, dumpfes Geräusch: Die Frau schreit auf. Ohne das Taschentuch loszulassen, zerrt sie den Arm aus dem Türspalt und starrt auf ihrgequetschtes Handgelenk. Der Lemming aber bugsiert den Buggy die Stufen hinab und verschwindet um die Ecke. Der kleine moralische Sieg gegen Farnleithners Frau hat seine Laune gehoben, und so verläuft der Fußmarsch zum Wohnhaus Herbert Prantzls in unerwartet harmonischer Stimmung: Vom Katzenkopfpflaster des malerischen Spittelbergs durchgerüttelt, stößt Benjamin vergnügte Schreie aus, die der Lemming seinerseits mit Bravorufen quittiert. So betrachtet ist es gar kein Glücksfall, dass Prantzl so nahe beim
Deli Farnleithner
wohnt: Zu kurz währt die Zufriedenheit zwischen Josefstadt und Neubau.
     
    Siebensterngasse also. Während der Lemming noch die Namen auf der Gegensprechanlage studiert, die im stuckverzierten Portal des Biedermeierhauses ähnlich deplatziert wirkt wie ein Hörgerät auf einer Beethovenbüste, wird von innen das Haustor geöffnet.
    «Sie da! Zu wem wollen S’ denn ’leicht?»
    Schon hat sich die gedrungene Alte im Türrahmen aufgepflanzt: ein in die Tage gekommener Zerberus, sichtlich bereit, jeden unbefugten Eindringling mit seinen dritten Zähnen zu zerfetzen.
    «Ja   … Zum Herrn Prantzl tät ich gern   …»
    «Jessas, zum Prantzl! Was wollen S’ denn ’leicht vom   … Mei, liab!» Ohne Ben überhaupt zu Gesicht bekommen zu haben (das Verdeck des Buggys ist hochgeklappt), erliegt die Alte beim bloßen Anblick des Kinderwagens der typischen Wiener Obsession: Obwohl man selbst lieber Hunde und Katzen hält, findet man die Babys anderer Leute unwiderstehlich. So unwiderstehlich, dass man zuweilen sogar seine Pflicht vergisst und seinen Posten im Haustor verlässt, um diesen fleischgewordenen Putten sein Gloria zu singen, ihre kleinen Marzipangesichter zu befingern, sie in ihre rosa Zuckerbackerln zu zwicken.
    «Nein, so ein süßes Mäderl! Wie heißen wir denn?»
    Ben sieht die Alte ausdruckslos an, greift nach ihrem schwieligen Daumen und beginnt daran zu lutschen.
    «Benjamin», sagt der Lemming. «Entschuldigung, wir müssen.» So rasch er kann, zieht er den Buggy in den Eingang.
    «Dritter Stock, Tür zwölf», ruft ihm die Alte nach. «Is eh z’ Haus, der Prantzl. Aber Lift haben wir keinen; mit Ihnern Wagerl werden S’ da nix reißen   … Wenn S’ wollen, der Herr, kann ich ja derweil auf ihr

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