Lemmings Zorn
«Mambo hat mir das Leben gerettet», so der schockierte Prantzl. Die REINE aber fordert: Vermummungs- und Kopftuchverbot zum Schutz unserer fleißigen und unbescholtenen Bürger!
Ein langes, düsteres Schweigen senkt sich jetzt über Klara und den Lemming, einträchtig, aber auch unheilschwanger: Ihr einziges Verständnis scheint das Einverständnis zu sein, dass es hier nichts zu verstehen gibt, ihre einzige Ahnung die Vorahnung großer Probleme.
«Na, das ist doch was», meint der Lemming schließlich mit heiserer Stimme.
«Ja? Und was?»
«Zumindest eine Spur. Zwei Namen, immerhin …» Langsam beginnen die Mühlen im Kopf des Lemming zu mahlen, anfangs noch müde und schwerfällig, dann – durch den eigenen Schwung beflügelt – schneller und schneller. Eine vermutlich ermordete Frau, so breitet er im Geist die Fakten vor sich aus, ein möglicherweise entführter Gastwirt und ein angeblich überfallener Briefträger. Dazu ein gestorbenes Kind und ein Ehemann, der nicht so leicht zu finden sein wird: Der Name Lehner entspricht wohl weniger der sprichwörtlichen Nadel als vielmehr einem Grashalm im Heuhaufen. Zu guter Letzt ein nächtlicher Besucher im Smejkal’schen Garten, deroffenbar viel zu verbergen hat – allem voran seine Anwesenheit.
Nach und nach befüllt der Lemming seinen virtuellen Aktenschrank, heftet Notiz um Notiz auf seiner mentalen Pinnwand fest. Schon schälen sich die ersten Schemen aus dem Nebel, vage Phantasien, was womit warum und wie zusammenhängen könnte, als die Gedanken schlagartig verfliegen, noch ehe sie greifbar werden: Aus dem Schlafzimmer dringt ein dumpfes, rhythmisches Klopfen und zerstört das filigrane Netz aus Überlegungen, das der Lemming eben noch gesponnen hat.
«Was ist da los? Was macht der Kleine da?»
Gar nichts macht der Kleine da. Im Gegenteil: Vom plötzlichen Hämmern selbst aus dem Schlaf gerissen, fängt Benjamin lauthals zu brüllen an. Und gleich darauf der Lemming. Er läuft in den Schlafraum und schlägt mit der Faust an die Wand …
Ruhe. Grimmiges Lauschen. Auch Ben hält jetzt inne, sichtlich überrascht vom Zornesausbruch seines Vaters.
Dann aber hebt das ferne Surren eines elektrischen Motors an, gefolgt von jenem penetranten, Zwerchfell und Lenden durchzitternden Grollen eines Bohrers, der in das Mauerwerk dringt.
«Sie wissen, welchen Tag wir heute haben?»
«Natürlich …» Zwei feuchte, grüne Augen spähen skeptisch durch die daumendicken Brillengläser. Die Brillengläser spähen skeptisch durch den daumenbreiten Türspalt.
«Sie wissen auch, dass es ein Feiertag ist? Ein Tag der Ruhe und des Friedens?» Es kostet den Lemming erhebliche Mühe, die Ruhe, den Frieden selbst zu bewahren.
«Natürlich weiß ich das. Ich weiß auch, dass der Messias gekommen ist, um uns … Hören Sie, Ihre Leute waren schon letzte Woche da, sehr höflich, sehr manierlich, da kann mannichts sagen. Aber ich hab den Wachposten schon. Und jetzt gerade hab ich wirklich keine …»
«Wachtturm»,
stößt der Lemming hervor. «Babbm», meint auch Ben, der – immer noch verweint – in seinen Armen hängt.
«Wachtturm, meinetwegen.» Der Türspalt verbreitert sich nun ein Stück, das Misstrauen im Blick des schmächtigen Mannes wandelt sich zur Neugier: Zeugen Jehovas, die mit Babys auf die Runde gehen, sieht man schließlich nicht alle Tage.
«Wir sind Nachbarn», sagt der Lemming. «Verstehen Sie?»
«Sicher. Selbstverständlich. Wir sind alle Seine Kinder. Eine einzige große Familie, sozusagen. Trotzdem ist es gerade sehr ungünstig: Ich stecke mitten in der Arbeit.»
«Nein!» Müsste er Benjamin nicht halten, der Lemming würde die Hände ringen. «Nein, wir sind wirklich Nachbarn! Ich wohne im Nebenhaus, Wand an Wand mit Ihnen!»
«Aha … Ach so!» Endlich scheint der andere zu verstehen. «Ja schön, dass wir uns einmal kennenlernen. Also Sie sind … drüben, auf der anderen Seite der Feuermauer?»
«Drüben, richtig. Nur dass eine Feuermauer leider keine Schallmauer ist.»
«Schallmauer … lustig.» Ohne weiter auf die Bemerkung des Lemming zu achten, zieht der Bebrillte jetzt vollends die Tür auf und gibt den Blick auf seinen blauen, staubbedeckten Overall frei. «Und der Kleine? Haben wir etwa geweint?»
«Ja», erwidert der Lemming. «Wir haben geweint.»
«Oje. Warum denn?»
«Weil wir nach einer langen und nicht gerade erbaulichen Nacht aus dem Schlaf gerissen worden sind. Weil wir dringend unsere Ruhe
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