Lemmings Zorn
glücklich seid.»
«Du Arschloch», flüstert Klara.
«Das bin ich, ja. Das bin ich. Trotzdem hab ich dich lieb. Und den Ben sowieso. Und den Castro …»
Castro hebt gelangweilt eine Augenbraue.
«Den Castro überhaupt.»
«Du Arschloch.»
Der Lemming nickt. Zaghaft – nur mit einer Hinterbacke – lässt er sich an Klaras Seite nieder. «Ich schätze, dass eine Knackwurst da nicht reichen wird. Wahrscheinlich … Wahrscheinlich nicht einmal eine knusprige Ente …»
Klara dreht langsam den Kopf und sieht ihn an. «Nie wieder», murmelt sie. «Gib so was nie wieder von dir.»
«Ich verspreche dir, das werd ich nicht.»
«Dann komm jetzt her, du Arschloch.»
Da ist es wieder, dieses Flattern unsichtbarer Flügel in der Magengrube. So wie damals, vor viereinhalb Jahren, als er ihr zum ersten Mal begegnet ist. Und so wie damals hebt er jetzt zögernd die Hände, streicht sanft über Klaras Augen und Wangen, über ihr tiefschwarzes Haar.
In Klaras Schoß folgt Benjamin gebannt dem Treiben seiner Eltern, beobachtet, wie ihre Hände, ihre Lippen zueinander finden, wie sich der schützende Baldachin ihrer Gesichter und Arme über ihm schließt.
Keine zwei Meter entfernt, auf der anderen Seite der Mauer, wirft der Nachbar die Kreissäge an.
13
Das Kahlenbergerdorf ist nicht nur seinem Namen nach ein Dorf; es hat sich aufgrund seiner Lage das liebliche Erscheinungsbild eines altertümlichen Winzerorts bewahrt. Eingezwängt zwischen Nussberg und Leopoldsberg klebt die kleine Ansiedlung am Ufer der Donau, nach allen Seiten hin abgeschottet, vermeintlich der Welt entzogen. Aber eben nur vermeintlich: Sein topographischer Eigensinn konnte es weder vor dem Einfall der Türken noch vor jenem der Wiener bewahren – wobei die Wiener am Ende erfolgreicher waren. Nachdem das Dorf jeweils im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert von osmanischen Truppen verheert worden war, wurde es gegen Ende des neunzehnten in die Kaiserstadt eingemeindet.
Der Lemming steigt aus der Franz-Josefs-Bahn, unterquert die Bundesstraße und taucht in die Stille, in die winterliche Dunkelheit der engen Gassen ein. Er braucht nicht lange, bis er Farnleithners Adresse gefunden hat: ein kleines, weiß getünchtes Winzerhaus, das sich eng an seine Nachbarn schmiegt, fast so, als würde es frieren. Der Lemming tritt an den niedrigen Torbogen und lässt suchend den Blick schweifen, doch er kann keine Klingel entdecken. Nach einigem Tasten erst stößt er auf einen Türklopfer, der an der Pforte angebracht ist. Zweimal schlägt er den schweren Knauf an das Tor: ein hohler Klang, der spukhaft von den schlafenden Fassaden widerhallt.
Natürlich hat er sich gefragt, ob dieser abendliche Ausflug wohl vernünftig ist: Das seltsame Telefonat mit Farnleithner deutet darauf hin, dass der Wirt einen anderen Gast erwartet: einen, dem er zwar noch nie begegnet ist, dem gegenüber er jedoch – warum auch immer – tiefe Dankbarkeit empfindet. Oder auch einen, den er für blöde genug hält, sich von ihm in die Falle locken zu lassen.
Nicht lange, und ein Riegel wird polternd zurückgeschoben – die Pforte öffnet sich.
«Willkommen. Freut mich, dass Sie die Zeit gefunden haben.»
Ein legerer, aber trotzdem gefälliger Trainingsanzug, der einen drahtigen Körper verhüllt. Kurzes, angegrautes Haar über dem kantigen, ausdrucksvollen Gesicht. Harald Farnleithner gleicht einem dieser Männer in den besten Jahren, die im Fernsehen für Aftershave, Autos und Aktien werben.
«So sehen Sie also aus», sagt er, während er den Lemming mit freundlichem Interesse mustert. Dann tritt er zur Seite, um den Weg freizugeben. «Nur herein, es ist kalt.»
Der Lemming ist auf der Hut. Mit Argusaugen mustert er die schwach erleuchtete Einfahrt, die in einen dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsenen Hof mündet. Außer einem langen, mit einer Plane verhüllten Gegenstand zu seiner Rechten kann er nichts Ungewöhnliches entdecken.
«Ja, das … Meine Indian, Sie wissen schon», lächelt Farnleithner, dem die forschenden Blicke seines Gastes nicht entgangen sind. «So bitte, hier entlang.» Er geht dem Lemming voran durch einen schmalen Laubengang und öffnet eine Tür, die ins Innere des Hauses führt.
Ein schönes Haus, nicht nur von außen. Die groben weißen Wände, die uralten wuchtigen Holzbalken, deren dunkles Braun sich auf dem Bretterboden fortsetzt. Die beschlagenen, tief in die dicken Mauern versenkten Sprossenfenster, der gusseiserne
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