Lemmings Zorn
Rauschen des Windes und Vogelgezwitscher. Kurz gesagt: So wie wir bei unserer ersten Begegnung gewusst hatten, dass wir füreinander bestimmt sind, so haben wir bei der ersten Begegnung mit dieser Wohnung gewusst: Diese Räume sind unser Schicksal. Sie war ein Traum, diese Wohnung. Ein Albtraum. Ja, sie war unser Schicksal.»
12
«Benjamin also.»
«Du hast schon richtig gehört. Angela hat unser Kind nach ihrem … ihrem verstorbenen Sohn benannt, verstehst du? Ben trägt den Namen eines Toten!»
«Das mag schon sein. Und ja, es fühlt sich in gewisser
Weise … abwegig an. Andererseits zeigt das doch nur …»
«Was? Was zeigt das nur?»
«Dass sie ihn lieb gehabt hat, ihren Buben.»
Der Lemming stellt den Kinderwagen neben den stählernen Aufzugschacht und hebt behutsam den schlafenden Ben heraus.
Vor dem Haustor in der Servitengasse sind sie einander begegnet, Klara mit Castro, der Lemming mit Ben. Kurz habensie überlegt, noch einen Abstecher ins Kaffeehaus zu machen – die Aussicht darauf, ihrem Nachbarn gleich wieder beim Basteln lauschen zu müssen, war wenig erbaulich. Doch dann hat die Verantwortung gesiegt: Benjamin braucht seinen Brei, sobald er munter wird, und handwarmen Karottenbrei mit Fenchel und püriertem Putenfleisch hat das Kaffeehaus nicht im Angebot.
«Geh, sei so lieb, nimm noch die Babuschka mit», raunt der Lemming Klara jetzt zu. «Du weißt ja: Wenn er aufwacht und sie ist nicht da …»
Klara zieht die Puppe aus dem Seitenfach des Buggys, und sie machen sich gemeinsam an den Aufstieg.
«Hast du sonst noch etwas rausbekommen bei den Smejkals?»
«Leider nicht. Bescheidene Verhältnisse, spartanische Möbel, ein großes Holzkreuz an der Wand. Und ein gebrochenes altes Ehepaar. Wie gesagt: Er wollte nicht reden, sie konnte nicht. Ich hab mich ziemlich bald verabschiedet.»
«Und das Foto?»
«Hab ich dort gelassen. Die alte Smejkal kann es besser brauchen als wir … Und du? Wie war’s beim Szenewirten?»
«Gar nicht», brummt der Lemming. «Ich hab nur seine Frau getroffen. Am Handgelenk.» Ein Grinsen zieht sich über sein Gesicht, als er sich seinen Abgang aus dem Portal des Farnleithner in Erinnerung ruft – die einzige befriedigende Szene des heutigen Tages. «Aber unser kleiner Sherlock Holmes hier», er deutet auf den schlafenden Ben, «hat ein anderes Foto gefunden. Ein hochinteressantes …»
«Warte!», unterbricht ihn Klara jetzt. Sie bleibt neben ihm stehen und greift nach Castros Halsband. «Sitz, Castro. Sitz! Sag, Poldi … Kann es sein, dass du nicht ordentlich zugesperrt hast?»
Schon setzt der Lemming zu einer Erwiderung an, doch dann sticht auch ihm der Grund für die Frage ins Auge:ein schmaler Lichtstreifen, der durch die Wohnungstür schimmert. Und ein zweiter, viel kleinerer Strahl, der die Stelle markiert, an der heute früh noch ein Türschloss gewesen ist.
«Meiner Seel, Herr Walli, Sie Armer. Und dann noch mit dem kleinen Butzerl. Am Christtag! Ich sag’s Ihnen, nein, schriftlich geb ich’s Ihnen, dass das keine von uns waren. Also keine Österreicher. Obwohl, was heutzutag schon alles Österreicher ist, man könnt wirklich verzweifeln. Verzweifeln könnt man! Haben S’ ’leicht schon Spuren, Herr Walli? Sie waren doch einmal bei der Polizei. Mein Seliger hat immer g’sagt: ‹Gefängnis ist noch zu wenig›, hat er g’sagt. ‹Gefängnis ist noch zu wenig!› Jetzt sagen S’ einmal, was haben s’ denn alles mitgehen lassen, die Lumpen, was fehlt Ihnen denn jetzt? Fernseher? Sparbücheln? Geld?»
Frau Homolka, die feiste Nachbarin aus dem zweiten Stock. Zöge man die Neugier und die Dummheit ab von dieser Frau, es bliebe nicht viel mehr als ihre Selbstgefälligkeit und Ignoranz. Und ihr geblümtes Hauskleid, das sie aber auch fast nie zu wechseln pflegt. Jetzt beugt sie sich vor und versucht, einen Blick in die Wohnung zu erhaschen.
«Gar nichts fehlt uns, Frau Homolka. Wir haben ja auch nichts Wertvolles hier. Keine Diamanten, keine Antiquitäten. Nur eine tote Ente im Eiskasten …»
«Ein Enterl, meiner Seel … Aber wissen S’, was, Herr Walli? Vielleicht hat ja auch unser Dings – Sie wissen schon, wen ich mein –, vielleicht hat ja auch der Ihre Tür aufbrechen lassen.»
Verständnislos runzelt der Lemming die Stirn.
«Na, unser Besitzer», flüstert Frau Homolka. «Der Gartner.» Mit verschwörerischer Miene greift sie in die Seitentasche ihres Hauskleids und zieht ein blaues Kuvert
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