Lemmings Zorn
halb geschlossenen Ventilen im Nebennierenmark.
«Dann setzen wir eben den Castro davor! Wozu haben wir sonst den Hund?»
Klara mustert den Lemming ausdruckslos. Nur ihre Stirn drückt aus, was in ihr vorgeht: Bläulich schimmert dem Lemming die Ader des Zorns entgegen. «Drittens», sagt sie, «nützt uns auch der Hund nichts, wenn wir alle außer Haus sind. Viertens hab ich den Castro schon drei Jahre länger als dich. Und ich habe ihn aus einem einzigen Grund: weil ich ihn liebe. Weil er mein Leben bereichert.»
Adrenalin ist ein hinterhältiger kleiner Flaschengeist, der sich, einmal freigesetzt, mit aller Tücke und List dagegen wehrt, in sein Gebinde zurückzukehren. Nicht nur Choleriker wissendas. Es kann dem bedachtsamsten Menschen Gedanken einflüstern, für die er sich hinterher geißeln und kreuzigen möchte. Und es bringt ihn dazu, diese Gedanken auch auszusprechen, nein: hinauszubrüllen.
«Drei Jahre länger als mich also! Länger! Größer! Toller! Mehr! Wenn du deinen herrlichen, deinen wundervollen Hund so abgöttisch liebst, dann lass in Zukunft doch
ihn
auf dein Kind aufpassen!»
Für einen Moment steht die Zeit still – nur Castro flüchtet mit eingezogenem Schwanz in die Ecke. Dann aber hebt Ben im Nebenzimmer zu schreien an. Durch die Wand dringen – lauter denn je – die Bohrgeräusche des Nachbarn. Aus dem Hosensack des Lemming ertönen Trompeten – das Handy.
«Ja, was denn?», schnauzt er zwei Sekunden später in den Hörer.
«Entschuldigen Sie … Ich hoffe, dass ich da richtig bin …»
«Ich auch! Wer ist denn da?»
Klara erhebt sich wortlos, geht ins Schlafzimmer und schließt die Tür hinter sich.
«Sie müssen verzeihen, wenn ich Sie störe», erwidert der Mann am anderen Ende der Leitung, «aber Sie haben ja um meinen Rückruf gebeten.»
«Ich … Wieso Rückruf?»
«Es könnte sich natürlich auch um einen Irrtum handeln, aber …»
«Ja, Herrgott, dann sagen Sie halt, wie Sie heißen!»
«Farnleithner mein Name. Harald Farnleithner. Meine Frau hat mir Ihre Nummer gegeben.»
Von einer Sekunde zur nächsten legt sich die Wut des Lemming; der giftige Cocktail in seinen Venen verflüchtigt sich. Es ist keine angenehme Empfindung, wenn sich der Jähzorn so eilig zurückzieht, es fühlt sich so an, als würde man schlagartig ausgesaugt, leer gepumpt. Das Vakuum plötzlicher Nüchternheit aber gibt deutlich und scharf den Blick auf daseigene, unsagbar schlechte Gewissen frei – vielleicht ist es deshalb so schwer zu ertragen.
«Herr Farnleithner … Dass Sie so rasch … Nicht bös sein, aber ich habe gerade enorm viel zu tun.»
«Wie könnt ich denn bös sein.» Sanft ist die Stimme Farnleithners, fast priesterlich sanft. «Ich bin doch froh, dass Sie sich gemeldet haben; ich will Ihnen schließlich schon lange … Aber wollen wir das nicht von Angesicht zu Angesicht besprechen?»
«Das … Das versteh ich jetzt nicht. Sie wissen doch gar nicht, was ich von Ihnen …»
«Was Sie von mir wollen? Egal, Sie kriegen es von mir.» Ein leises Kichern dringt aus dem Hörer. «Haben Sie schon etwas vor am Abend?»
«Nein …», der Lemming wirft einen Blick auf die Schlafzimmertür. «Also … Ich weiß noch nicht sicher.»
«Dann kommen Sie mich doch besuchen.»
«In der Lenaugasse? In Ihrem Lokal?»
«Aber nein!» Farnleithner bricht in fröhliches Gelächter aus. «Dort bin ich doch nicht mehr … Nein, nein, bei mir zu Haus, im Kahlenbergerdörfl. Haben Sie was zu schreiben bei der Hand?»
Hastig notiert der Lemming die Adresse. «Ja, also … Ich werde es versuchen. Danke, dass Sie zurückgerufen haben, Herr Farnleithner.»
«Im Gegenteil, es war mir ein Vergnügen. Und es wird mir noch ein größeres sein, mich persönlich bei Ihnen zu bedanken.»
Farnleithner legt auf. Seine Worte lassen den Lemming verwirrt zurück.
«Es tut mir so leid.»
Klara sitzt mit feuchten Augen auf der Bettkante und wiegt Ben in den Armen. Zu ihren Füßen liegt Castro; er hat nur einkurzes, mürrisches Grunzen von sich gegeben, als der Lemming ins Zimmer getreten ist.
«Wie kann ich das je wiedergutmachen?»
Klara starrt aus dem Fenster.
«Bitte vergib mir, es ist irgendwie … mit mir durchgegangen. Ich hab noch nie so beschissene Weihnachten erlebt, und sie werden von Minute zu Minute beschissener. Aber ich weiß ja: für dich, für euch ganz genauso. Und das macht die Sache noch schlimmer, weil ich … doch will, dass ihr
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