Lemmings Zorn
Zahl der dadurch verursachten Krebs- und Herztoten, der Invaliden und Verletzten gar nicht eingerechnet. Die gehen nämlich – so wie die sonstigen Kosten und Schäden – ins absolut Unvorstellbare. Trotzdem hat noch keiner darüber nachgedacht, den Individualverkehr – oder auch nur die Autowerbung – zu verbieten. Stattdessen müssen sich Tabakgenießer täglich anhören, dass sie pathologische Mörder sind. Bald werden sie nur noch daheim rauchen dürfen, wo sie ihre eigenen Kinder einnebeln, oder eben im Freien, auf der Straße vor den Lokalen, wo sie den Kindern anderer Leute als Vorbild dienen. Und die Wirts und Kaffeehäuser selbst werden leer stehen: Grabsteine einer Kultur, die von einer Handvoll geistloser Heuchler mit einem Federstrich ausgerottet wird.»
«Sie haben ja nicht ganz unrecht», wirft der Lemming jetzt ein, «aber ob man da wirklich von Kultur …»
«Karl Kraus, Anton Kuh, Alfred Polgar, Egon Friedell», unterbrichtihn Farnleithner. «Soll ich noch ein paar aufzählen? Franz Werfel vielleicht? Arthur Schnitzler? Peter Altenberg? Was die auf kulturellem Gebiet geleistet haben, wird selbstverständlich – und nicht zuletzt von unseren Politikern – für das ganze Land reklamiert. Dass sie intellektuelle Neuerer und Querdenker waren, die ihre Ideen im Kaffeehaus entwickelt haben, das macht sich auch noch ganz hübsch in den Fremdenverkehrsprospekten. Dass sie dort aber nicht nur gedacht und gelacht, gestritten und politisiert, sondern auch gemeinsam geraucht und getrunken haben, das lässt man wohlweislich unter den Tisch fallen. Sonst könnte am End noch der Eindruck entstehen, dass Toleranz und Freiheit etwas Positives sind. Können Sie sich Stefan Zweig und Sigmund Freud vorstellen, die auf dem regennassen Gehsteig stehen und – wie räudige Hunde vor die Tür gejagt – über psychoanalytische Aspekte in der Zweig’schen Schreibkunst diskutieren? Beide mit hochgeschlagenen Mantelkrägen, hektisch an ihren Zigaretten saugend, fröstelnd, mit einem Wort: gedemütigt?»
«Na ja … Nicht wirklich, um ehrlich zu sein.»
«Wissen Sie, Herr Mally, Gesundheit hin oder her. Respekt vor seinen Mitmenschen bedeutet einfach, niemanden mit etwas zu behelligen, womit er nicht behelligt werden will. Ob das nun Gerüche sind oder … Geräusche. Ja, ja, ich weiß schon, damit renne ich bei Ihnen offene Türen ein. Aber Respekt heißt doch auch, den anderen ihre Passionen zu lassen. Orte zu schaffen und zu schützen, wo sie ihren Lebensstil mit Gleichgesinnten pflegen können. Laute Musik beispielsweise: Ich gehe einmal davon aus», Farnleithner schmunzelt hintergründig, «dass Sie nicht so gerne in die Disko gehen.»
«Nein», gibt der Lemming das Schmunzeln zurück. «Damit kann ich wirklich nicht dienen.»
«Sind Sie deshalb dafür, Diskotheken generell zu verbieten?»
Jetzt lacht der Lemming auf. Unmerklich hat sein Panzer aus Misstrauen Risse bekommen, ist nach und nach abgebröckelt. Harald Farnleithner, so muss er sich eingestehen, ist ebenso wenig bedrohlich wie unsympathisch. Zwar mag er mit einer gewissen Verbissenheit argumentieren, aber doch auch mit Geist und Humor. Fast hat der Lemming schon den Grund seines Besuchs vergessen – einen Grund, der nach wie vor nur schemenhaft durch einen Nebel aus bizarren Theorien und vagen Vermutungen schimmert.
«Jetzt bin ich wohl ein bisschen abgeschweift – vergeben Sie mir meine Predigt. Trotzdem können Sie daran erkennen, dass Ihre … Ihre Anstrengungen nicht erfolglos waren. Dass ich begonnen habe, über diese Dinge nachzudenken. Aber wo bin ich stehengeblieben?»
«Bei Ihren Gästen. Bei den Rauchern auf dem Trottoir.»
Farnleithner trinkt einen Schluck, kippt dann den Rest der Flasche in die Gläser. «Bei den Leuten am Gehsteig, genau. Plaudern und Lachen, Lallen und Grölen bis drei in der Früh. Dazu die Eingangstür, die fortwährend auf- und zugegangen ist – nur in der wärmeren Jahreszeit nicht. Da haben wir sie nämlich gleich ganz aufgemacht, also sind die Geräusche aus dem Lokal dann auch noch in einem fort durch die Straße gehallt: das ständige Geschirrgeklapper, die Kaffeemaschine – und die Musik natürlich.»
Der Lemming, eben im Begriff, nach seinem Glas zu greifen, hält inne. In seinem Kopf kommt plötzlich eine leichte Brise auf, eine sanfte Drift der Gedanken, die nun – ähnlich einem trägen Karpfenschwarm – in der Strömung der Farnleithner’schen Worte schaukeln. Schon löst sich
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