Lemmings Zorn
einer der Gedankenfische aus dem Pulk, um langsam in Richtung Bewusstsein hochzusteigen.
«Was soll ich sagen, Herr Mally? Ich kann nur reumütig eingestehen, dass ich schon damals gespürt hab, das ist nicht in Ordnung, das ist ein Angriff auf das Leben der Leute, die überuns in ihren Wohnungen hocken und einfach nicht auskönnen. Trotzdem hab ich es getan. Schlimmer noch: Kaum haben sich die Leute zu wehren begonnen, bin ich», Farnleithner zuckt bedauernd mit den Achseln, «bin ich … trotzig geworden. Zuerst die Polizei: Jeden Abend sind die mehrmals bei mir aufgetaucht. Das war ja noch lustig – also damals hab ich es lustig gefunden, zu meiner Schande. Warum? Weil von vornherein klar war, die können nichts ausrichten. Befehl von oben, von ganz oben: Als politisches Pilotprojekt ist das
Farnleithner
zu schützen; es hat die Lizenz zum Lärmen, wenn es schon keine zum Rauchen hat. Die Polizisten haben also jedes Mal herumgedruckst, dass sie ja leider verpflichtet sind, den Beschwerden der Anrainer nachzugehen, und ob es nicht doch unter Umständen irgendwie möglich wäre, die Lautstärke vielleicht ein bisserl und so weiter. Dann haben sie einen Kaffee von mir gekriegt und sind wieder abgezogen. Ich hab ja bald herausbekommen, wer in erster Linie dahintersteckt, also hinter den Anzeigen und den Beschwerden. Ist ja nicht so schwer, wenn man die richtigen Kontakte hat. Und eines Nachts hat sie uns dann persönlich besucht. Im Nachthemd … Übrigens: Was meinen S’, sollen wir zwei noch ein Flascherl köpfen?»
«Da sag ich nicht nein – ein wirklich guter Tropfen, das. Aber sagen Sie … Wer hat Sie da genau besucht?»
«Gehen S’, Herr Mally, Sie Schlingel, jetzt tun S’ doch nicht so!» Farnleithner droht dem Lemming neckisch mit dem Zeigefinger. «Sie hat uns sogar mit Ihnen gedroht: Dass ihr Mann bei einer Sondereinheit ist, hat sie gesagt, Ihre Gattin, und dass er sich gerade zum Antiterrorspezialisten ausbilden lässt, in Amerika drüben. ‹Wenn der nach Österreich zurückkommt, wird Ihnen das Lachen schon vergehen!› Wir haben trotzdem gelacht, meine Frau und ich, wir haben ihr kein Wort geglaubt. Und ich … Wie gesagt, ich bin trotzig geworden: Von dem Moment an hab ich die Musik im Lokal aufvolle Lautstärke gedreht; sogar unsere eigenen Gäste auf der Straße draußen haben sich schon beschwert. Es war mir egal, Herr Mally. Je mehr mich das Unrecht geschützt hat, desto mehr habe ich mich im Recht gefühlt. Und als krönender Abschluss jeden Abends – Sie wissen es ja – der Ritt auf der Indian. Meine Frau ist mit dem Auto heimgefahren, aber ich idiotischer Dickschädel habe partout darauf bestanden, das Motorrad zu nehmen. Die Maschine im Leerlauf satt aufröhren lassen, sieben-, acht-, neunmal, jede Nacht zwischen drei und halb vier. Und dann mit vollem Karacho die Lenaugasse hinunter. Wem es vorher irgendwie gelungen ist, Schlaf zu finden, dem hat es spätestens jetzt die Ohropax im Schädel zerrissen. Scheiße!», Farnleithners Faust kracht unvermittelt auf die Platte des Couchtischs, «Scheiße, war ich ein mieses Arschloch! Und wenn ich nicht als mieses Arschloch sterben muss, dann hab ich es Ihnen zu verdanken. Deshalb hol ich uns jetzt einen Wein, damit wir darauf trinken können.»
Als Farnleithner im Flur verschwindet, hat der Gedankenfisch des Lemming fast schon die Oberfläche erreicht. Klar scheint vorerst, dass ihn der Wirt für den Mann jener mysteriösen Frau Mally hält. Klar scheint aber auch, dass Farnleithner – so wie auch der Briefträger Prantzl – seinen Nachbarn das Leben zur Hölle gemacht hat. Und dass die hilflosen Bewohner dieser Hölle Jandula und eben Mally heißen. Aber noch etwas drängt jetzt unaufhaltsam in das Bewusstsein des Lemming: die Erinnerung an sein Telefonat mit Angela Lehner, an das Gespräch im vergangenen Mai, nur wenige Tage nach Bens Geburt. Die Geräuschkulisse, die ihm damals aus dem Hörer entgegengeschwappt ist, entspricht bis ins Letzte der Schilderung Harald Farnleithners.
«So. Auf ein Neues.» Farnleithner stellt eine frische, kellerkühl schimmernde Flasche auf den Tisch. «Ist es nicht herrlichruhig hier heraußen? Man findet hier alles, was man braucht: Zeit und Stille und Wein. Ein Leben ohne Imponiergehabe, ohne große Gesten, ohne Stress und Nervosität, mit einem Wort: ein Leben ohne meine Frau.» Er lächelt, den Schalk in den Augen, und zündet sich eine weitere Zigarette an. «Obwohl ich ihren Abgang
Weitere Kostenlose Bücher