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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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– mitgekriegt, was mir passiert ist, und ihre Schlüsse daraus gezogen. Schließlich weiß man ja nie so genau, wen es als Nächsten erwischt   … Also: Nichts mehr mit Lizenz zum Lärmen. Lieber ein Exempel statuieren; man ist ja nicht umsonst Berufsopportunist.» Harald Farnleithner greift jetzt zum Flaschenöffner und beginnt, ihn langsam in den Korken der Bouteille zu drehen. «Meine Frau glaubt mir bis heute nicht. Sie hält mich für den Schuldigen an ihrer Misere, an ihrem gesellschaftlichen Abstieg, an ihrer plötzlichen Bedeutungslosigkeit. Auch heute, wie sie mich zu Mittag angerufenhat: ‹Weißt du, wer gerade hier war? Dein erleuchteter Freund! Dein geistiger Führer! Dein Guru mit seiner dreckigen, kleinen Gurubrut! Ich geb dir seine Nummer, dann kannst du ihm endlich die Füße küssen!› Ja, Herr Mally», Farnleithner zieht mit einem Ruck den Korken aus der Flasche, «ich hätt mich wohl besser in Acht nehmen müssen vor Ihnen.»
    Der Gedankenfisch dreht Pirouetten, er schnellt übers Wasser, glitzert im Licht der wirr durcheinanderzuckenden Geistesblitze. Farnleithner und Prantzl, der Wirt und der Briefträger, Sport und Musik. Zwei Zeitungsmeldungen : ein vereitelter Überfall, eine Entführung. Und er selbst, der Lemming, als das unfreiwillige Double von Frau Mallys Mann: Antiterrorspezialist und – nebenbei – Farnleithners Kidnapper.
    Der Lemming starrt Harald Farnleithner an.
    «Am Anfang war ich überzeugt davon, Sie wollen mich umbringen», murmelt dieser jetzt. «Und rückblickend muss ich sagen, dass ich sogar dafür Verständnis gehabt hätte   …»
    Alf, denkt der Lemming. Alf   … Dieser Besuch heute Abend war also doch ein Spiel mit dem Feuer   … Was bedeutet dieses
Alf
?   … Mehr als ein Spiel mit dem Feuer: eine halsbrecherische Aktion, ein Tanz auf dem Vulkan   … Und was um alles in der Welt hat Angela Lehner in dieser Geschichte verloren?   … Wenn Farnleithner nun anders reagiert hätte? Wenn er den Lemming so empfangen hätte, wie man es als vermeintlicher Täter von seinem Opfer erwarten kann?   … Jandulas Foto, der rote Engel, der Schatten im Garten der Smejkals   …
    Der Lemming schließt die Augen, fährt sich mit den Händen über das müde Gesicht. «Hätten Sie jetzt vielleicht doch eine Zigarette für mich?», fragt er leise.

14
    Der Brief, dieser wichtige Brief   … Abholen muss er ihn, der Lemming, auf dem Postamt hinter den Weinbergen, hinter den sieben Hügeln der Stadt. Er kämpft sich keuchend durch das Unterholz; rötliche, taufeuchte Blätter klatschen ihm gegen die Stirn. Ein Zweig knackt unter seinen Füßen, ein Vogelschwarm fliegt auf: Es sind gerupfte Enten, die nun ruhig, mit leisem Flügelschlag in Richtung Westen ziehen. Tief unten, in der Ebene, folgt Ben den Schatten der Vögel. Spielerisch, nur mit der Kraft der Gedanken lenkt er das hurtige Ferkel, das seinen Wagen zieht: ein lautloser Glücksritt im fahlen Dezemberlicht. Der Wagen ist ein Trog, ein Floß, eine Arche, ein Schiff ohne Reling. Benjamin krabbelt blitzschnell über das Oberdeck; er ändert jedes Mal die Richtung, wenn der Lemming ihn packen will. Gib acht, Ben, bleib hier, Ben, nur ja nicht zu nahe zum Rand: Hunderte Meter tief geht es hinunter; das Schiff ist ein Flugzeug, ein Luftschiff. In heftigen Böen bläst dem Lemming der Wind ins Gesicht. Er hört seine eigenen Warnrufe nicht; er kann gar nicht rufen, der Nebel nimmt ihm den Atem. Man muss landen, möglichst rasch landen, bevor der Kleine die Kante erreicht. Ein sanfter Ruck, das war knapp. Ben steht auf, er ist jetzt erwachsen. Er hebt die Hand und winkt dem Lemming zu, sein Blick ist gütig und liebevoll. Ein Abschiedsblick. Der Lemming weint. Er weint einen Fluss, einen tiefen, breiten, blauen Fluss, an dessen anderem Ufer das Postamt steht: eine stillgelegte Ruine, eingerüstet mit morschen, knarrenden Brettern. Hoch oben ein einsamer Arbeiter, der auf den Lemming herabsieht. Der Brief, dieser wichtige Brief: Wahrscheinlich liegt er im verwaisten Schalterraum, auf einem der verwaisten Tische: Menschen gehen, Briefe bleiben. Der Lemming stapft los, stapft über den Fluss. Unter seinen Schritten wird das Wasser zu Asphalt. Der Arbeiter wendet sich ab; er beginnt, den Verputz von der Mauer zu schaben.
    Der Lemming schreckt hoch; die Bilder verschwimmen, verlieren sich abrupt in der Finsternis.
    Nur der Arbeiter bleibt.
    Während aus dem Dunkel der Nacht jenes Halbdunkel steigt, das die Wiener zur

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