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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Winterzeit
Tag
nennen, dringen schon die ersten, wenn auch noch schüchternen Schabgeräusche des Nachbarn durch die Wand.
    Wie hat es Farnleithner gestern formuliert? Nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr scheißen, nicht mehr denken. Also auch an diesem 26.   Dezember nicht. Kurz vor acht ist es, und schon ist dieser neue Tag verdorben.
    Beinahe verdorben.
    Eine kleine warme Hand ertastet die Wange des Lemming, knetet die Haut, als wollte sie die Qualität des Fleisches prüfen, wandert dann höher, zur Nase, drückt und zwickt sie hingebungsvoll.
    «Bam», sagt Ben und betrachtet die Nase, wie man ein exotisches Insekt betrachtet: unentschlossen, ob man es gründlich studieren oder zerquetschen soll.
    «Bam» gibt der Lemming zurück. Er knurrt und schnappt mit den Lippen nach Benjamins Fingern. Der Kleine quietscht auf. Zwei-, dreimal schlägt er mit der flachen Hand auf das widerspenstige Nasentier, dann krabbelt er flink auf den Oberkörper des Lemming, lässt seinen Kopf in dessen Halsgrube sinken, liegt mit einem Mal ganz still. Der Lemming spürt das zarte Klopfen seines Herzens auf der Haut.
    Auch der Nachbar beginnt nun zu klopfen.
    «Bam?» Benjamin richtet sich auf.
    «Bam», seufzt der Lemming. Neben ihm rascheln die Daunen: Klaras zerzauster Schopf kommt unter der Decke hervor. «Bam, bam, bam, bam, bam   …», stimmt sie schlaftrunken mit ein.
     
    Es ist ein langer Abend im Kahlenbergerdorf geworden. Ein langer, aber nicht wirklich maßloser Abend. Nach einerweiteren Flasche Weißwein und drei Zigaretten hat der Lemming nämlich jede Vorsicht fahren lassen. Nein, seine wahre Identität hat er nicht gelüftet; Farnleithner war bis zuletzt davon überzeugt, es mit jenem geheimnisvollen Herrn Mally zu tun zu haben, jenem
Global Player
im Kampf gegen den Terror, der nun das Flair von Guantanamo anscheinend auch in Wien etablierte. Nur dass eben jener Herr Mally nach der dritten Bouteille etwas tat, das nicht im Geringsten seinem Berufsbild entsprach, etwas Unvorsichtiges eben: Er schlief ein.
    Farnleithner hätte nun alles mit ihm anstellen können, was einem so in den Sinn kommt, wenn man an geheimdienstliche Tätigkeiten denkt: ihn verkabeln, ihn häuten, sein eigenes Gemächt an ihn verfüttern. Aber er tat es nicht. Er tat gar nichts. Farnleithner ließ ihn schlafen.
    Und der Lemming wieder ließ Farnleithner schlafen, als er gegen zwei erwachte und sich aus dem Haus stahl. Züge fuhren keine mehr; ein Taxi brachte ihn in die Rossau. Kaum hatte er die ramponierte Wohnungstür geöffnet, spürte er Castros kühle Schnauze an der Hand: Der gute alte Hund bewachte sie wirklich, die Tür; Klara hatte ihm eine Decke in den Vorraum gebreitet, eine Wasserschüssel danebengestellt. Der Lemming holte die letzte Knackwurst aus dem Kühlschrank, setzte sich zu Castro auf die Decke und leistete ihm Gesellschaft, bis die Wurst den Weg aller Würste gegangen war. Ein letztes, dankbar gemurmeltes Wort, ein letztes Kraulen des Hundenackens, danach nur noch Bett, nur noch Schwärze und Stille.
     
    «Es hat Symmetrie.» Klara schiebt den letzten Löffel Brei in Benjamins Mund: Reisschleim mit Apfel- und Birnenmus. «Es hat Symmetrie, oder findest du nicht?»
    «Doch. Zwei Opfer, zwei Täter   …»
    «Zwei Täter, die zu Opfern werden. Einer zumindest. Hat derFarnleithner erzählt, was du – also was dieser Mally mit ihm angestellt hat, während er weg war?»
    «Nein. Kein Wort. Als Mally hab ich ihn auch schwerlich danach fragen können.»
    «Und trotzdem», sagt Klara nachdenklich, während sie Benjamins Mund abwischt und ihm mit spitzen Fingern den reisschleimbesudelten Latz entfernt, «trotzdem ist ihm nicht aufgefallen, dass du ein anderer bist?»
    «Nein», meint der Lemming. Nachdem er mit zwei Schlucken seine Kaffeetasse geleert hat, steht er auf, um das Telefonbuch zu holen.
    «Da haben wir’s ja», murmelt er kurze Zeit später. «Josefine Mally, Lenaugasse. Dürfte gleich vis-a-vis vom Farnleithner sein. Ehemann steht aber keiner dabei.»
    «Das wär auch ein schöner Eintrag:
Mally, Alf Mally, diplomierter Geheimagent
…»
    «Am besten mit den entsprechenden lexikalischen Querverweisen: Siehe auch
Franz Müller
oder
John Smith

    Klara schmunzelt. Beugt sich vor und setzt Ben auf den Boden. Schnurstracks kriecht er mit schlingerndem Hintern auf seine Spielzeugecke zu und greift nach der russischen Puppe. Schüttelt sie, schlägt sie dann gegen den Boden, ganz im Rhythmus der

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