Lemmings Zorn
er endlich aufgerufen. Die Untersuchung des lädierten Hinterteils ging rasch vonstatten: Eine junge Ärztin und ein Gummihandschuh, mehr brauchte es nicht dazu. Die Diagnose wenigstens fiel beruhigend aus: «Nur geprellt», sagte die Ärztin, während der Lemming mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Hosen hochzog.
«Ich verschreibe Ihnen ein Analgetikum, das schlucken Sie bei Bedarf.»
«Ein orales Analgetikum?»
«Die Wege der Chemie sind unergründlich. Am besten besorgen Sie sich einen Schwimmreifen.»
«Einen Schwimmreifen?»
«Ja. Aber nicht zum Schwimmen», hat die Ärztin gegrinst.
Seit gut zwei Jahren ist der Lemming nicht mehr hier im
Grissini
gewesen, das wird ihm erst richtig bewusst, sobald er in die Gaststube tritt. Karol, der Wirt, hat den Raum inzwischen umgestaltet, hat ihn mit der – im baulichen Umgang mit Wiener Lokalen so seltenen – Behutsamkeit einer Amme erneuert, die das Badewasser wechselt, ohne das Kind auszuschütten. Vor allem hat Karol seinem kleinen Reich einenneuen Anstrich gegeben. Die Wände, die davor noch weiß waren, sind jetzt in ein tiefes, warmes Rot getaucht. Ein Venetianerrot.
Es ist der Raum auf Jandulas Fotografie.
An einem Tisch in der hinteren Ecke sitzen fünf Personen: Josefine Mally, Klaus Jandula und drei weitere, von denen einer dem Lemming vertraut ist: der alte, faltige Mann auf dem Foto, der Mann mit den schlohweißen Haaren. Auch jetzt hat er den Vorsitz eingenommen, lächelt freundlich in die Runde, nippt an seinem Achtel Rot. Rechts von ihm sitzen zwei Männer, die der Lemming nie zuvor gesehen hat: ein überaus voluminöser Glatzkopf, der sich im Sekundentakt die Schweißperlen von der Stirn wischt, und ein umso kleinerer mit dunklem, lockigem Haar, auf dessen Nase ein altertümliches Brillengestell ruht.
«Verzeihen Sie die Verspätung.» Der Lemming nickt Mally und Jandula zu und wendet sich dann an die anderen. «Wallisch, sehr erfreut.»
«Unser Reporter!», sagt Jandula. «Schön, dass Sie noch gekommen sind.» Während er aufsteht, um dem Lemming einen Stuhl zu holen, deutet Josefine Mally in die Runde. «Darf ich bekannt machen …», beginnt sie, aber der kleine Bebrillte nimmt ihr das Wort aus dem Mund. «Sabitzer», sagt er mit zittriger Stimme und streckt dem Lemming die Hand hin, «Fabian Sabitzer. Autowerkstatt.»
«Aha …»
Während der Lemming noch über die seltsame Vorstellung Sabitzers nachdenkt, setzt der Dicke die Begrüßungsrunde fort. «Meisel. Franz Meisel. Autobahn.»
«Auto
bahn
?» Der Lemming stutzt. Dass einem eine Werkstatt gehört, soll ja ab und zu vorkommen, aber ein Highway? Eine Autobahn im Besitz eines schwitzenden, pastetenförmigen Menschen, eines Mannes im fleckigen T-Shirt , der – wie der Lemming mit einem raschen Blick feststellt – nichteinmal Zigarren, sondern Zigaretten der billigsten Sorte raucht?
«Autobahn, ja», schnauft der Dicke. «Ich hab ein Häuserl im Zweiundzwanzigsten. Drei Zimmer und ein kleiner Garten. Vorn die Südosttangente, hinten die Donaustadtstraße. So kann ich mir’s jede Nacht aussuchen, wo ich meinen Schlaf nicht find.»
«Bittschön, Herr Wallisch.» Jandula ist wieder an den Tisch getreten, einen Stuhl in den Händen. «Haben sich die Herren schon bekannt gemacht?»
«Wir sind gerade dabei», murmelt der Lemming. Er begreift jetzt, was die Menschen an diesem Tisch miteinander verbindet. Hypochonder stellen sich bekanntlich mit ihren Leiden vor, notorische Golfspieler mit ihrem Handicap. Ihre Leiden und ihre Handicaps, das sind, wie es scheint, auch die Themen dieser Runde: eine Werkstatt und eine Stadtautobahn, entfesselte Wirtshausgäste und ein boxender Briefträger. Was wird wohl der schlohweiße Greis nun erzählen? Der Lemming reicht ihm die Hand. «Angenehm, Wallisch.»
Ohne den Gruß zu erwidern, sieht ihn der Alte an. Ein sanfter, leicht entrückter Blick, ein breites, schweigendes Lächeln.
«Theodor Nedbal. Flugschneise», sagt Josefine Mally an seiner Statt. «Er kann Sie nicht verstehen, Herr Wallisch, er ist taub.»
«Na kommen Sie, so setzen Sie sich doch.» Jandula, der mittlerweile wieder Platz genommen hat, deutet auf den leeren Sessel.
Einen Versuch ist es wert. Im Zeitlupentempo lässt sich der Lemming auf die Sitzfläche sinken, um – mit einem verhaltenen Schrei auf den Lippen – sofort wieder hochzuschnellen.
Es ist Karol, der Wirt, der ihn davor bewahrt, den ganzen Abend stehen zu müssen. Schwimmreifen hat Karol zwar keinen zur
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