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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Leitungen sind endlich repariert, wir können zurück in die Roterdgasse, das und nichts anderes hab ich gemeint. Oder glaubst du, ich wünsch wem den Tod, nur weil er ein schäbiger Mistkerl ist?»
    «Aber nein.» Der Lemming winkt ab. «Das täte doch keiner von uns.» Unsicher sieht er jetzt in Klaras Augen, versucht zu ergründen, ob sie es etwa ironisch meint. Aber kein Schmunzeln, kein hintergründiges Zwinkern: Da ist nur ihr dunkler, ernster Blick.
    «Apropos Mistkerl», meint sie jetzt. «Was hast du über diesen Mally rausgefunden?»
    «Es gibt keinen Mally. Unser diplomierter Geheimagent hat offenbar nie existiert.» Und dann berichtet der Lemming von seinem Treffen im Café
Eiles
. Einem Treffen, das – so ungeplant es in dieser Form war – heute Abend ein weiteres nach sich ziehen wird: ein Rendezvous mit jenem ominösen
Alf
.
     
    Es geht gegen fünf, als Klara und der Lemming endlich reisefertig sind: Abermals bersten die Taschen vor Spielzeug und Kleidern, vor Decken und Windeln und Essen. Bürzel an Bürzel ruhen auch zwei tote Vögel in einem zerknitterten Plastiksack: Benjamins gelber Bade-Donald-Duck und die blasse, schon etwas verschrumpelte Ente des Lemming. Ente und Erpel, traulich vereint, dazu die passende Geräuschkulisse: ein halblautes, zyklisches Quaken, das durch die Räume hallt. Käme es nicht aus der halbgeöffneten Schlafzimmertür, man könnte an ein postmortales Schwätzchen zwischen Fleisch und Gummi glauben. Tatsächlich aber scheint das Regal des Nachbarn endlich Formen anzunehmen: Er hämmert und sägt nicht mehr, er zieht bereits die Schrauben fest.
    Mit Sack und Pack und Kind und Hund machen sich Klara und der Lemming an den Abstieg. Sie haben schon fast das Erdgeschoss erreicht, als Castro plötzlich stehenbleibt und die Ohren spitzt.
    «Was hat er denn?» Vorsichtig stellt der Lemming die Taschen und Säcke ab, geht vor Castro in die Knie und legt ihm die Hand auf den Rücken. Das Fell ist gesträubt; ein leises, doch spürbares Zittern läuft darüber. Besorgt blickt der Lemming zu Klara auf; er hebt den Zeigefinger an die Lippen und bedeutet ihr wortlos, den Hund festzuhalten. Während sie Ben auf die Hüfte verlagert, um Castros Halsband packen zu können, schleicht er die restlichen Stufen hinunter.
    Im Halblicht der Vorhalle, neben dem blechernen Liftschacht beugt sich ein Mann über Benjamins Kinderwagen. Ein hagerer Mann in zerschlissenem Mantel. Ohne den Lemming zu bemerken, durchwühlt er die Seitentaschen des Buggys, stöbert im Korb, der unter der Sitzfläche hängt.
    «Falls Sie die Sparbücher meines Sohnes suchen, die sind in seinem Gitterbett versteckt.»
    Der Mann schrickt hoch, er fährt mit einem dumpfen Schrei auf dem Absatz herum.
    Eine hohe, elegant gewölbte Stirn, darunter ein kantiges, schmales Gesicht, das sich zum Kinn hin noch weiter verjüngt. Seine Züge lassen an den jungen Erich Kästner denken, an die zwanziger, dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Tatsächlich gemahnt seine ganze Erscheinung an diese Ära – oder zumindest an manche Figuren, die man heute noch aus alten Filmen kennt. Die blonden, schütteren Haare, die ärmliche Kleidung, die Haltung, die Augen: große, runde Augen, die jetzt angsterfüllt aus ihren Höhlen treten. Peter Lorre, denkt der Lemming. Eine Stadt sucht einen Mörder   …
    Wie versteinert steht der Mann und starrt den Lemming an: ein geblendetes Reh auf der Autobahn, fassungslos, regungslos, sprachlos. Als wäre er todgeweiht. Und so liegt es nun eben am Fahrer, die Bremse zu ziehen, die Situation zu entschärfen.
    «Was wollen Sie denn?», fragt der Lemming möglichst ruhig. «Brauchen Sie Geld?»
    Der Mann aber schweigt nur. Und starrt. Er schweigt und starrt so lange, bis mit einem Mal ein helles Kreischen durch den Hausflur schallt: Es ist unverkennbar Bens Organ; er hat es offenbar satt, auf der Treppe zu warten.
    Es gibt Momente, in denen alles zugleich passiert, und wenn schon nicht zugleich, so doch im Ablauf weniger, kurzer Sekunden. Momente wie ein Knoten im Raum-Zeit-Kontinuum, wie Little Bighorn, Pearl Harbor und Nine-eleven an ein und demselben Tag.
    So ein Moment ist nun gekommen; Benjamin hat ihn nur eingeleitet. Klara tut den zweiten Schritt, sie fällt prompt in sein lautstarkes Krähen mit ein: «Poldi, pass auf!», schreit sie, Entsetzen in der Stimme. «Ich kann ihn nicht mehr halten!» Der Lemming wirbelt herum, stürzt auf den Treppenabsatz zu, bereit für den Hechtsprung, die

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