Lemmings Zorn
sonnig und alles, wie immer halt da unten bei die Neger! Zigtausend Tote, haben s’ g’sagt, und alle dersoffen! Verstehen S’, Herr Walli: Zig!»
Noch ist der Lemming nicht vollkommen sicher, worum es hier geht. Erst später wird ihm Klara die Geschichte in einer konziseren Form zu Gehör bringen: Ein Seebeben im Indischen Ozean hat in der vergangenen Nacht eine der größten Flutkatastrophen der Neuzeit ausgelöst. Die Erde ist ja nicht wie ein kompakter Leberknödel konstruiert, sondern eher wie ein sehr poröses Grießnockerl, das, gerade erst in Form gebracht, gleich wieder in der heißen Suppe zu zerfallen droht. Es brodelt in Abrahams Wurstkessel, es brodelt so sehr, dass das Nockerl aufquillt und auseinanderzubröckeln beginnt. Wenn das Nockerl aber bröckelt, lässt das die Suppe nicht kalt: Moleküle verschieben sich, drängeln und stoßen einander, inszenieren einen Aufruhr in der Rinderbrühe, der sich bis an deren Oberfläche fortpflanzt, dahin, wo die Schnittlauchstücke schwimmen. Es entstehen also Wellen, winzige Wellen, fraglos zu klein, um über den Tellerrand zu schwappen oder sonstigen Schaden in der hermetischen Welt einer Küche anzurichten. Anders in der hermetischen Küche der Welt: Mit der Rasanz eines Jumbojets ist eine solche Welle über das Wasser des Indischen Ozeans gerast, zunächst noch unmerklich, weil nur wenige Handbreit hoch, dann aber, in der seichteren Nähe der Küsten, zunehmend mächtig und voluminös. Als sie die Strände erreichte, hatte sie sich in einen Moloch verwandelt: keine elegant geformte, glatte und glänzende Woge, wie man sie aus Beach-Boys-Filmen kennt, sondern eine braune, alles verschlingende Schlammwalze von der Höhe eines mehrstöckigen Wohnhauses.
Es mag zwar noch nie vorgekommen sein, aber mit «zigtausendToten» hat Frau Homolka krass untertrieben: In den nächsten Tagen nämlich werden sich die Opferzahlen drastisch erhöhen. Zweihundertdreißigtausend Menschen werden am Ende als tot und vermisst gelten, darunter mehrere tausend Touristen aus westlichen Ländern.
«Und das», raunt Homolka dem Lemming jetzt verschwörerisch ins Ohr, nachdem sie ihren fetten Wanst ganz dicht an ihn herangewuchtet hat, «wo doch gerade unser Dings da unten ist. Unser, eh schon wissen, wer. Auf Urlaub ist er g’fahren, nach … Dings. Dort, wo s’ die ganzen kleinen Mäderln verkaufen tun, für … Na, für Schweinereien halt. Und auch die Buberln, man mag sich’s gar nicht vorstellen. Das hab ich alles von der Schalko aus dem ersten Stock gehört, und die hat’s wieder von der alten Schestak.»
«Unser Dings? Sie meinen, der … Gartner?», fragt der Lemming, der nun auf erträgliche Distanz zurückweicht.
«Meiner Seel, Herr Walli, net so laut!» Frau Homolka sieht sich furchtsam um. «Ganz genau der», flüstert sie dann. «Unser Hausherr. Na, was sagen S’ jetzt, Herr Walli? Jetzt sagen S’ nix mehr, oder?»
«Ich weiß nicht. Was sollt ich denn sagen?»
«Ich bitt Sie, Herr Walli! Bei mir brauchen S’ gar net den Gutmenschen spielen, ich weiß ganz genau, was jetzt in Ihrem Oberstüberl vorgeht. Weil wenn der Dings da unten abg’soffen ist, können Sie Ihre Wohnung behalten. Stimmt’s, oder hab ich recht?» Homolka schenkt dem Lemming ein plump vertrauliches Grinsen, ein Grinsen wie unter Diätpatienten, die einander beim Verzehr von Schweinsbraten erwischen.
Das Schlimme an diesem Grinsen ist aber nicht so sehr sein penetranter Gestank nach Verbrüderung, es ist vielmehr der Umstand, dass Frau Homolka, diese menschgewordene Blutwurst, diese Monstergrammel in Blümchenpanier, dass Frau Homolka also recht hat. Es stimmt, was sie sagt, auch wennsie es – ihrer Natur gemäß – boshafter ausdrückt, als es der Lemming zu denken vermag. Wenn schon eine Katastrophe, dann soll sie gefälligst nur Leute wie Gartner verschlingen, möglichst viele Gartners, ja, am besten alle Gartners dieser Welt: So haben seine Gedanken gelautet.
Es ist schon früher Nachmittag, als Klara, Ben und Castro kommen; Kind und Hund sind guter Laune, Klara halb bestürzt und halb erleichtert, vermischen sich doch die erschütternden Neuigkeiten aus Übersee mit jenen weit besseren aus Ottakring.
«Arme Menschen, großes Leid», sagt sie traurig. «Da kriegt man beinahe ein schlechtes Gewissen für seine kleine, persönliche Freude.»
Der Lemming runzelt die Stirn. «Du meinst … dass der Gartner da unten ist?»
«Geh, Poldi, was denkst denn von mir? Die
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