Lemmings Zorn
Hand, und sein nicht ganz ernst gemeinter Vorschlag, einen großen Ring aus Pizzateig zu backen, wird vom Lemmingdankend abgelehnt. Aber schon nach wenigen Minuten bringt er eine Pferdedecke, die er liebevoll zu einer langen Wurst zusammenrollt und kreisförmig auf dem Stuhl drapiert. «Wenigstens Klo gehen kannst du alleine», zwinkert er dem Lemming zu.
Kaum hat sich dieser auf dem provisorischen Steißbeinschoner niedergelassen, fangen Meisel und Sabitzer zu erzählen an. Sie sind sichtlich davon überzeugt, mit einem Reporter zu sprechen; so wie gestern Klaus Jandula scheinen nun auch sie darauf zu hoffen, dass eine Publikation ihrer Leiden die Leiden als solche zu bannen vermag. Sie schildern ihm minutiös ihre Qualen, ihre täglichen Martyrien, die im Falle Franz Meisels auch nächtliche sind. Kein Wort über Angela Lehner, keine Erwähnung des geheimnisvollen
Alf
. Nur die ganz privaten Kalamitäten, die Trostlosigkeit und Verzweiflung zweier unbedeutender Männer.
Fabian Sabitzer, Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, hat seine Wohnung in Hernals vor fünf Jahren angemietet, direkt am vierspurigen Gürtel, der verkehrsreichsten Landesstraße Österreichs. Gewiss keine Wohnung, um seine Nachmittage mit Korrekturen und Stundenvorbereitungen, vielleicht auch mit einem Erholungsschläfchen zu verbringen, wäre da nicht der zwar düstere, aber ruhige Hof auf der anderen Seite des Hauses gewesen. Sabitzer hat also Schreibtisch und Bett nach hinten verlegt, um seinen Arbeitspflichten und seinem Schlafbedürfnis nachkommen zu können. Bis – zwei Jahre später – die kleine Schildermalerei im Parterre einer Autospenglerei gewichen ist. «Wussten Sie», fragt Sabitzer den Lemming, «dass die Römer schon hundert vor Christus den Wagenverkehr in ihren Stadtzentren verboten haben? Und dass es den römischen Kupferschmieden untersagt war, sich in Straßen anzusiedeln, in denen ein
Professor
wohnte? So wie zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts in Leipzig und Jena: Jedes laute Handwerkwurde damals aus Straßen verbannt, in denen sogenannte Doctores lebten.»
Der Rest von Sabitzers Geschichte ähnelt einem langen, tiefen Fall; die Richtung ist vorhersehbar, der Schluss zu erahnen. Vorn das Grollen der Motoren, das Rumpeln der Reifen und Gellen der Hupen, hinten das Hämmern und Sägen, das Klappern und Kreischen geschundenen Blechs. Gespräche mit dem Besitzer der Werkstatt haben zum selben Ergebnis geführt wie ungezählte Eingaben an die Behörden. «Sagen Sie einem Spengler, dass er nicht hämmern soll», stößt der Lehrer hervor. «Und wenn Sie dann noch weitere Lacher ernten wollen, schreiben Sie dem Magistrat, dass ein Spengler nicht hämmern soll.»
Der kleine Sabitzer verstummt, nur seine schmalen Hände beben vor Erregung. Der dicke Meisel dagegen bleibt vollkommen ruhig, als er – nach einem Moment pietätvollen Schweigens – das Wort ergreift. Statt zu zittern, schüttet er unmäßig Bier in sich hinein, gigantische Mengen von Bier: Sechs oder sieben Krügel zählt der Lemming, bis Meisels Erzählung ein Ende findet, und das, obwohl sie nicht länger ausfällt als jene des Lehrers.
Meisel wohnt in einem Haus, das sein Vater in den fünfziger Jahren gebaut hat, unweit der Alten Donau, nur einen Steinwurf vom Oberen Mühlwasser entfernt. Eine wundervolle Gegend war das damals: saftige Auen und weglose Wälder, dunkelgrüne Märchenteiche, in denen sich schillernde Fische tummelten. Ein Naturparadies von amazonischem Gepräge, wie geschaffen dafür, dem kleinen Franz Meisel als Abenteuerspielplatz zu dienen. Zwanzig Jahre später war es mit dem Abenteuer dann fast schon vorbei. Die Trasse der Wiener Südosttangente wurde bis über die Donau verlängert; als meistbefahrene Straße Österreichs bahnte sie sich unaufhaltsam ihren Weg nach Norden, eine alles verschlingende Hydra, auf deren Rücken Tag für Tag einhundertachtzigtausendAutos die Stadt durchqueren. Der Vater starb Mitte der Siebziger, Meisel selbst blieb im Haus, obwohl schon damals feststand, dass die Hydra weiterwachsen würde. «Warum ich nicht weggezogen bin?», meint er auf eine Frage des Lemming. «Weil ich ihn lieb gehabt hab, meinen Alten. Und weil das Häuserl sein Lebenswerk war.» Und so hat er aus dem Lehnstuhl dabei zugesehen, wie sich die Baumaschinen – keine hundert Meter entfernt – vom Autobahnknoten Kaisermühlen in Richtung Hirschstetten fraßen. «Damals bin ich auf den Geschmack gekommen», meint er, prostet dem
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