Lemmings Zorn
Schönwetter. Wenn es draußen stürmt und schneit, dann fliegen die Jets vom Süden her an, dann können die Leute getrost aus dem Keller kommen und wieder die Fenster öffnen.»
«Schlechter», ergreift Josefine Mally jetzt wieder das Wort, «geht’s nur noch den Leuten im Norden, die unter der Schneise der anderen Flugpiste wohnen. Dort wird nämlich auch in der Nacht gelandet. Oder eben gestartet, je nach Wind. Die lassen ihre Kinder teilweise wirklich im Keller schlafen. Und weil ja nichts schöner ist als das Fliegen, plant man jetzt noch eine dritte Piste. Zur Erhöhung der Kapazitäten, nicht zur Entlastung der anderen.»
«Aber … Wehren sich denn die Leute nicht?», wirft der Lemming ein. Er erntet ein bitteres Lachen Klaus Jandulas.
«Protestschreiben, Anzeigen, Bürgerinitiativen. Tausendehaben sich zu wehren versucht, Herr Wallisch. Tausende. Auch der Herr Nedbal natürlich. Was zurückkam, waren die üblichen Finten des höheren Managements: moderne Inszenierungen der eigenen Leutseligkeit, verschleiert mit todschicken Namen wie
Mediationsverfahren
oder
Dialogforum
. Dort hat man den Betroffenen dann erklärt, dass sie den Lärm eben
mögen
sollen.» Jandula beugt sich vor; sein Schädel schlenkert heftig hin und her. «
Mögen
, verstehen Sie?
Mögen
im Dienste der Allgemeinheit!»
«Es ist die alte politische Strategie.» Josefine Mally legt beschwichtigend die Hand auf Jandulas Arm. «Eine kleinere Gruppe wird gegen eine größere ausgespielt, zehn Leute gegen hundert, hundert gegen tausend und so weiter. Der Rubel muss rollen, das ist oberstes Gebot für die Herrschaften, die selber in Grünruhelage wohnen. Sie brauchen nur die Angstkeule zu schwingen: Gefährdung von Arbeitsplätzen, Gefährdung des Wirtschaftsstandorts, Gefährdung unserer
Europareife
. Schon haben sie die schweigende Mehrheit auf ihrer Seite, und ein paar tausend Menschen werden halt geopfert. Unsere ganzen Gesetze sind danach ausgerichtet: Einige verdienen, viele leiden. Und alle haben Angst, diesen Zustand zu ändern. Auch wenn es letztlich alle sind, die daran zugrunde gehen. Langsam und stetig, aber zugrunde. Beim Herrn Nedbal und seiner Frau ist das Ende vergleichsweise rasch gekommen. Sie hat sich umgebracht. Im letzten Sommer. Auf einer Hollywoodschaukel im Garten ist sie gesessen, in ihrer Scheiße und ihrem Erbrochenen, bis obenhin voll mit Beruhigungsmitteln und Wodka.»
«Mein Gott …» Der Lemming starrt Theodor Nedbal an, der Alte lächelt zurück.
«Er hat sie so gefunden. Darüber ein röhrender Jet, wahrscheinlich mit Kirschen aus Chile oder Touristen aus Moskau. Er hat sich zu ihr auf die Schaukel gesetzt und ist dort geblieben, draußen im Garten, am Himmel das Spalier der Düsenflieger:eine endlose, pfeifende, grölende Ehrengarde. Aber die hat er nicht mehr gehört, der Herr Nedbal.» Mally legt eine Pause ein; sie sieht den Lemming auffordernd an, als erwarte sie die Pointe eines Witzes von ihm zu erfahren. «Er hat sich die Trommelfelle durchstoßen», sagt sie dann. «Mit einem Schraubenzieher. Nach drei Tagen hat man ihn neben der Leiche seiner Frau gefunden, blutüberströmt. Er hat kein Wort mehr gesagt, hat nur vor sich hingelächelt. Das tut er bis heute, wie Sie ja sehen können.»
Nedbal nickt ihr freundlich zu, ergreift bedächtig sein Glas und trinkt.
«Trotzdem kommt er noch immer hierher, ins
Grissini
», mischt sich Jandula nun wieder ins Gespräch. «Jeden letzten Sonntag im Monat kommt er hierher, so wie die anderen Mitglieder unserer Stammtischrunde. Der gute Herr Nedbal ist uns eine Art … Maskottchen geworden. Oder besser: ein Schirmherr. Er ist die Verkörperung all dessen, was uns vereint. Und ich denke, Herr Wallisch, Sie wissen jetzt, was uns vereint.»
Der Lemming antwortet nicht sofort. Sein Blick wandert über das Tischtuch, als suche er ein Körnchen Fröhlichkeit zwischen den Falten. «Das war ja nicht zu überhören», meint er schließlich mit heiserer Stimme.
«Ganz richtig, Sie sagen es. Was uns vereint, ist das, was nicht zu überhören ist: die Gemeinheit, die Rücksichtslosigkeit unserer Mitbürger. Die Entwertung und Zerstörung, der Diebstahl unseres Lebens. Aus Jux und Tollerei in meinem Fall, aus Großmannssucht bei der Frau Mally, oder eben aus Habgier wie bei den anderen drei Herren. Ob das nun private oder kollektive Habgier ist, macht ebenso viel Unterschied wie … wie im Eiskasten oder im Kühlhaus zu erfrieren.»
«Und deshalb haben Sie
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