Lemmings Zorn
Todesspirale, bereit, den Kleinen aufzufangen, und koste es auch ein gebrochenes Rückgrat. Doch im selben Augenblick muss er erkennen, wenKlara gemeint hat: nicht Benjamin, sondern Castro, der jetzt in fliegender Hast um die Ecke biegt.
Um dieselbe Ecke wie er selbst, der Lemming.
Die Kollision ist unvermeidlich: Schon zieht es ihm die Beine weg – eine plötzliche Reminiszenz an seine Jugend, in der er gelegentlich Fußball gespielt hat –, aus seinem Hechtsprung wird notgedrungen ein Salto, ein erbärmlicher Überschlag, dessen dramatischer Wert den ästhetischen weit übertrifft. Mit rudernden Armen fliegt der Lemming durch die Luft, dann schlägt sein Steißbein derb auf die Stufen: ein kurzes, hässliches Knirschen, ein jäher, stechender Schmerz.
Zum zweiten Mal an diesem Tag ist er nun auf dem Boden gelandet. Benommen wendet er sich zu Castro um, der – einigermaßen verdutzt – auf der anderen Seite des Vorhauses liegt. Auch der Hund – der gegnerische Stürmer sozusagen – ist nämlich zu Fall gekommen; wie ein riesiger, pelziger Eisstock ist er meterweit über den Steinboden geschlittert, quer durch das ganze Foyer.
Das menschenleere Foyer.
«Dreck», ächzt der Lemming.
Der Hagere, Stumme, der Zwischenkriegsmann ist verschwunden.
18
Ein polnischer Wirt, ein syrischer Koch, ein persischer Kellner. Mit anderen Worten: eine typische Wiener Pizzeria. Das ist das
Grissini
, auf den ersten Blick zumindest. Auf den zweiten schon entpuppt es sich als ein Lokal, in dem der polyglotte Geist Kakaniens auf wunderbare Weise in die Gegenwart gespiegelt wird. Es ist mehr als eine bloße Futterkrippe, mehr als nur ein Ort, um seinen Durst zu stillen. Es ist eine Institution. Ob nun Verkäufer oder Beamter, ob Unternehmer oder Ganove: Hier trifft man sich, um alsMensch unter Menschen zu sein, hier lässt man einander – von allen Profanitäten der Außenwelt unbeleckt – ganz einfach leben. Nicht immer hoch, aber leben. Dünkel und Verachtung bleiben draußen vor der Tür, Titel, Rang und Renommee sind ebenso belanglos wie ein perfekt geschnittener Anzug (oder perfekt geschnittenes Deutsch). Der soziale Status wird gewissermaßen an der Garderobe abgegeben. Sein gutes Benehmen dagegen sollte man mit in die Gaststube nehmen, und gutes Benehmen bedeutet in diesem Fall: Wohlwollen. Grundsätzliches Wohlwollen, auch für all jene, die anders sind.
Das mag nun der Grund dafür sein, dass sich das
Grissini
zum Schutzgebiet so mancher – nicht nur lokaler – Berühmtheit gemausert hat. Durchaus prominente Künstler gehen hier ein und aus, Schauspieler, Musiker, Dichter. Sie kommen auf ein Achtel Wein vorbei, auf eine Zigarette, plaudern, lachen und politisieren – und bleiben nicht selten für den Rest des Abends sitzen. Oder für den Rest der Nacht. Flora Tarim beispielsweise, die jemenitische Schriftstellerin, von der es heißt, sie sei nur knapp am Nobelpreis vorbeigeschrammt. Oder Hermann Riedmüller, der Maler, den der Lemming ja vor einem Jahr persönlich kennengelernt hat. In dieser kleinen, unscheinbaren Wirtschaft, die sich – am ganz und gar nicht heimeligen Julius-Tandler-Platz – zwischen eine Bäckerei und ein Schuhgeschäft zwängt, da kommen sie alle zusammen, die Erlauchten und die weniger Erlauchten dieser Stadt.
Es ist schon halb neun, als der Lemming die Glastür zum engen Schankraum aufdrückt und an der Bar vorbei in die Gaststube hinkt. Halb neun, weil sich die Wartezeit auf der Unfallstation enorm in die Länge gezogen hat. Unfallstation, weil er nach seinem Sturz heute Nachmittag kaum in der Lage war, aufzustehen, geschweige denn, sich mit Taschen und Säcken nach Ottakring zu bewegen.
«Ab ins Spital», hat Klara gesagt. «Sofort.»
«Und was soll das bringen? Soll ich mir etwa das Arschloch eingipsen lassen?»
«Ein gebrochenes Steißbein ist kein Spaß», hat Klara geduldig geantwortet. «Es muss womöglich eingerichtet werden, weil du sonst nie wieder richtig sitzen kannst.» Ohne seine Widerworte zu beachten, hat sie ihm Ben in die Hand gedrückt und das Gepäck zurück in die Wohnung getragen. «Übersiedeln können wir auch morgen noch», so lautete ihre Entscheidung, als sie den Kleinen wieder an sich nahm.
Der Lemming ist wohl oder übel ins Krankenhaus gefahren, mit der U-Bahn , weil man in U-Bahnen stehen kann. Nach zweieinhalb Stunden, in denen er ausgiebig die Hieb- und Stich-, die Schürf-, Quetsch- und Brandwunden der übrigen Wartenden betrachtet hatte, wurde
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