Lemmings Zorn
regelmäßig gekommen, jeden Monat wieder, pünktlich wie die Uhr. Und das, obwohl wir – zumindest am Anfang – nicht so recht verstanden haben, warum. Sie hat ja kaum etwas von sich gegeben, hat einfach nur zugehört, während die anderen geschimpft, geklagt und diskutiert haben. Ein paarmal sind wir auf sie zugegangen, haben versucht, etwas aus ihr herauszukitzeln, aber sie ist einsilbig geblieben. Dass ihr etwas zugestoßen ist, hat sie gesagt. Und dass sie nicht darüber reden kann –
noch
nicht. Also haben wir sie eben in Ruhe gelassen – man will ja niemanden zwingen. Ein halbes Jahr lang ist das so gegangen, bis zum März.»
«Und dann? Im März?»
Da sind sie wieder, diese sondierenden, fragenden Blicke zwischen Mally und Jandula: ein Blickwechsel wie der zweier Kaskadeure vor dem Salto mortale oder zweier Jungchirurgen vor dem ersten Schnitt.
«Es ist spät geworden im März», sagt Mally.
«Wirklich spät», bekräftigt Jandula. «Die anderen», wendet er sich nun wieder dem Lemming zu, «sind damals schon relativ zeitig gegangen: der Herr Sabitzer, der Herr Meisel und zwei weitere sporadische Gefährten. Auch unser lieber Herr Nedbal ist irgendwann aufgebrochen, sodass am Ende nur noch wir drei hier gesessen sind: die Frau Mally, die Frau Lehner und ich. Die Frau Lehner – die Angela – hat an demAbend … verändert gewirkt. In gewisser Weise agiler, lebendiger, offener. Vielleicht war das der Grund dafür, dass wir gesagt haben, gut, was soll’s, jetzt trinken wir noch ein Achtel. Und dann … hat sie plötzlich zu reden begonnen, die Angela. Zu reden und zu weinen.»
«Aber ohne Tränen», ergänzt Josefine Mally. «Zuerst hat sie nur vor sich hingestammelt, mit einem Gesicht, das man gar nicht beschreiben kann. So grau. So schmerzverzerrt. Ein einziges schreckliches Weh, ein unsagbares Leid war in diesem Gesicht.»
«Was hat sie erzählt?» Die Frage des Lemming kommt heiser und leise.
«Dass sie ihr Kind verloren hat», murmelt Jandula. «Und dass der Mörder ihres Buben frei herumläuft. Nein, der
Schuldige
hat sie gesagt, um genau zu sein. Wir wollten natürlich Näheres wissen: Was denn passiert sei, wer und wie und warum, aber die Angela hat nur gemeint, sie möchte uns die Einzelheiten ersparen. Ich glaube, sie wollte sich eher selbst ersparen, darüber zu sprechen: Manche Wunden sind so tief, dass man sie ohnehin nicht sauber kriegt. Die werden nicht mehr gut, die heilen nicht mehr zu, da können Sie daran herumdoktern, soviel Sie wollen.»
Jandula verstummt und hebt seinen schlenkernden Kopf: Karol ist an den Tisch getreten, um die leeren Gläser abzuräumen. «Darf noch was sein?», fragt er, das übliche schelmische Zwinkern um die Augen.
«Eine Runde noch», antwortet Jandula. «Die geht auf mich. Und … Bring mir jetzt bitte auch ein Achtel.»
Wie er das wohl trinken wird, überlegt der Lemming. Aber da spricht Klaus Jandula auch schon weiter.
«Wir wollen Sie nicht länger auf die Folter spannen, Herr Wallisch. Um Angelas Mörder zu finden, müssen Sie wohl oder übel wissen, was auch wir beide wissen. Mehr noch: Sie müssen die Dinge verstehen, begreifen, Sie müssen sie richtig
beurteilen
können. Deshalb haben wir Sie heute hierher bestellt, deshalb die ganzen Geschichten, die … gesammelten Leiden von
Alf
. Damit ihr Urteil nicht zu hart ausfällt.»
«Mein Urteil?»
«Ja. Ihr Urteil über uns: die Frau Mally und mich. Und letztlich auch über die Angela.»
«Unseren Engel», wirft Josefine Mally ein.
«Unseren Racheengel, ja. Sie hat uns an diesem Abend einen Vorschlag gemacht, ein Angebot, das … nun, das alles andere als gesetzestreu war. Nur: Wozu Gesetzen treu sein, die einen nicht schützen? Wozu Rechtschaffenheit, wenn man rechtlos ist? Also sind wir auf Angelas Ansinnen eingegangen: So illegal es auch gewesen sein mag, unmoralisch war es nicht. Im Gegenteil: Es war Angelas einzige Möglichkeit, kein schlimmeres Verbrechen zu begehen.»
«So hat sie es gesagt», bestätigt Josefine Mally. «Sie hatte Angst davor, die Gewalt über sich zu verlieren, Angst davor, den Kerl abzuschlachten, der ihr Leben zerstört hat. ‹Ich kann ihn nicht am Leben lassen, wenn ich ihn erst einmal in die Finger bekomme›, hat sie gesagt. ‹Aber dann bin ich auch nicht besser als er.› Verstehen Sie, Herr Wallisch: Der Grund für ihr Angebot war einzig und alleine ihr Gewissen, ihr verzweifelter Kampf darum, ein leidlich guter Mensch zu bleiben.»
«Ein
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