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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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die Ratte förmlich im Dreck gewälzt vor Servilität: ‹Überhaupt kein Problem! Wir bauen es um! Alles ist möglich!›»
    «Selbstverständlich, selbstverständlich   …»
    «Selbstverständlich, Sie sagen es. Der Aufsichtsrat hat die Wohnung dann doch nicht genommen, aber dafür ist der Ratte im Frühherbst eine umso drallere Melkkuh ins Netz gegangen. Es war wirklich der Jackpot, der ganz große Wurf: ein Industrieller aus der Nähe von Meran. Maschinenbau, Metallspritztechnik, etwas in der Art. Ein Mann, der sich krumm und dämlich damit verdient hat, Dinge herzustellen, von denen kaum einer weiß, dass sie überhaupt existieren. Südtiroler Noppenwellenregelelemente, die mit finnischen Drosselrückschlagsynchronisatoren gekoppelt werden, und was am Ende dabei herauskommt, ist dann ein bayrischer Türöffneroder ein französischer Haarföhn. Dieser Geldsack hat der Ratte Anfang September das gesamte Dachgeschoss abgekauft, als Wiener Stützpunkt für seine Ostgeschäfte wahrscheinlich. Aber zweihundert Quadratmeter und eine ebenso große Terrasse haben ihm natürlich nicht gereicht. Ein drittes Bad musste her, eine breitere Vorhalle, ein größerer Ankleideraum. Ein zusätzlicher Wintergarten, eine neue Treppe auf das Dach hinauf. Kurz gesagt: eine völlig andere Raumaufteilung. Und das alles ausgestattet wie ein   … ein Science-Fiction-Bunker.»
    «Science-Fiction-Bunker?»
    «Der Kerl war völlig meschugge. Ein Irrer, ein krankhafter Technologie-Fetischist. Und die Ratte hat das – selbstverständlich! – gleich erkannt und ausgenutzt. Was dem Meraner nicht selbst an modernistischem Schnickschnack eingefallen ist, das hat ihm die Ratte eingeredet: neue Wände aus einem ganz speziellen, eigens hergestellten kugelsicheren Material. Einen Chromstahl-Speisenaufzug auf die Terrasse. Eine Klimaanlage, die man per Internet programmieren kann. So wie überhaupt alles ferngesteuert sein musste: die Temperatur des Jacuzzi und die Neigungswinkel der Sonnensegel auf dem Dach, die Fenster und Markisen, die Beleuchtung. Überall Sensoren und Kameras, selbsttätig zur Seite gleitende Türen, verborgene Lichter, die aufflammen und wieder verglimmen: ein bisschen James Bond und ein bisschen Bill Gates, aber freilich im Tiroler Landhausstil. In diesem Verrückten hat die Ratte ihr Füllhorn gefunden, ihr ganz persönliches Eldorado. Einen Mann, bei dem Geld keine Rolle spielt, einen Mann, der zwar alles haben will, sich aber nichts davon vorstellen kann: Alle paar Monate ist er nach Wien auf die Baustelle gekommen und hat – von der geifernden Ratte bestärkt – entschieden, dass dieses und jenes nun doch wieder niederzureißen und neu zu gestalten sei: bauen und abreißen, neu bauen und demolieren, bauen, verändern, zerstören und erneut errichten.»
    «Woher haben Sie das gewusst? Ich meine, warum haben Sie so genau gewusst, was da oben vor sich geht?»
    «Weil ich dreimal in der Woche oben war. Mindestens. Ich habe es einfach nicht glauben können.
Wie lange noch
?, das war meine Standardfrage.
Wie lange noch? Wie lange noch? Wie lange noch?
Die Frage hat mich bis in die Träume verfolgt.
Wie lange noch?
Und dieses
Wie lange noch?
hat bedeutet: Wie lange noch am heutigen Tag? Wie lange noch in dieser Woche? Wie lange noch in meinem, in unserem Leben? Die Arbeiter haben nur noch die Augen verdreht, aber nicht über mich. ‹Weiß man nicht, was morgen wieder einfällt unser Chef›, haben sie achselzuckend gemeint und den fabrikneuen Speisenaufzug herausgemeißelt, weil die Ratte dem Meraner inzwischen einen noch größeren, noch funktionelleren eingeredet hatte. Und wenn ich der Ratte persönlich begegnet bin, hat es wie eh und je geheißen, dass irgendein anderer an der Verzögerung schuld sei: ein Lieferant, ein Beamter, eine falsche Wettervorhersage. ‹Wir müssen nur noch den Estrich erneuern, dann sind die Stemmarbeiten beendet. Im äußersten Fall noch zwei Wochen, den Rest werden Sie gar nicht mehr hören.›»
    «Und   … Wie lange hat es wirklich gedauert?»
    «Für uns noch ein weiteres Jahr. Also insgesamt von achtundneunzig bis zweitausenddrei. Für die anderen im Haus   … Ich weiß es nicht. Vielleicht baut er ja immer noch.»
    «Fünf Jahre? Fünf Jahre für ein
Dachgeschoss
? Und das ist erlaubt?»
    «Verzeihen Sie, wenn ich lache: Die Frage habe ich mir damals auch gestellt. Und die Antwort lautet: Ja, es
ist
erlaubt. Alles gesetzlich, wie schon gesagt. Es gibt eine Frist von fünf Jahren

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