Lemmings Zorn
bis er begreift, was er getan hat.› Und dann … Dann hat sie dieses Gedicht aufgesagt.»
«Ein Gedicht?»
Statt einer Antwort dreht sich Mally jetzt zu Jandula. Ein kurzes Nicken, und die beiden heben unisono an zu deklamieren: «
Sie töten den Geist und die Würde, ersticken uns Freude und Licht
…»
«
Zertreten die Liebe und Güte, sie töten – und wissen es nicht
», stimmt der Lemming mit ein.
Drei Namen spuken ihm durch das Gehirn, als er zu später Stunde das
Grissini
verlässt. Die Namen jener Männer nämlich, die ein Motiv gehabt haben könnten, Angela auszulöschen. Kurz hat er sogar an Klaus Jandula gedacht, dessen Hoffnungen auf Erlösung der gefallene Racheengel so bitter enttäuscht hat, aber: Ist diesem schmächtigen, schwer gezeichneten Mann ein Mord wirklich zuzutrauen? Nein, entscheidet der Lemming. Und wendet sich in Gedanken den anderen zu.
Da ist zunächst Frank Lehner, Angelas obskurer Ehemann. Wie hat Josefine Mally es ausgedrückt? Eine tickende Zeitbombe, einer, der sich nur mühsam unter Kontrolle hält. Nach der Beschreibung Mallys zu urteilen, scheint ihn mit seiner Frau kaum noch mehr verbunden zu haben als ein Stück gemeinsamer Vergangenheit. Einer Vergangenheit, die wohl – wie so oft – den Ruin der gemeinsamen Zukunft in sich getragen hat: das Ende der Liebe, das Sterben der Freundschaft, den Tod des Respekts. In diesem Fall aber auch den Tod des Elementarsten, des Unteilbarsten, das zwei Menschen miteinander haben können: den des gemeinsamen Kindes. Verletzung der Aufsichtspflicht und fahrlässige Tötung, so hat – laut Polivka – der Richter über Angela geurteilt: einSchuldspruch, der eine vergleichsweise milde Bewährungsstrafe nach sich zog. Kann es sein, dass Frank Lehner das Strafmaß erhöht hat? Empfindlich erhöht? Nur: Warum hätte er in diesem Fall mit Angela zum Treffen der
Alf
kommen sollen? Was ist im letzten Herbst passiert mit dem kleinen Benjamin Lehner?
An zweiter Stelle steht Harald Farnleithner, der scheinbar geläuterte Szenewirt, der seinem Beruf und seiner Gemahlin den Rücken gekehrt hat. Wäre es denkbar, dass der Abend in seinem beschaulichen Winzerhaus nur eine Finte war, ein penibel geplantes Ablenkungsmanöver? Dass er in Wahrheit sehr wohl über Angelas Rolle bei seiner Entführung und – von ihm selbst so benannten –
Behandlung
im Bilde war? Eine vorgetäuschte Scheidung, ein geleertes Haus, ein kunstvoll inszeniertes Schauspiel: Wäre die Rache, wäre der Mord an einer unbedeutenden Frau diesen Aufwand wirklich wert? Ein Mord noch dazu, der ohnehin als Suizid getarnt war?
Ähnliches gilt für den letzten Mann auf der Liste des Lemming: Herbert Prantzl. Auch er könnte – auf welchem Weg auch immer – herausgefunden haben, wer ihn damals im September überfallen hat. Und eine Bluttat wäre Prantzl durchaus zuzutrauen. Aber eben eine Bluttat, ein sinnliches, saftiges, rohes Gewaltverbrechen und keine diskrete, verschwiegene Exekution von gleichsam durchgeistigtem Raffinement.
Der Lemming wendet sich grübelnd nach links, stapft über den glitzernden, wieder gefrorenen Schneeschlick in Richtung Servitenviertel. Und da – ganz plötzlich – bemerkt er die beiden, nur aus den Augenwinkeln zunächst: einen gedrungenen Mann und einen ebenso bulligen Hund, die im matten Licht der Laternen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen.
Herbert Prantzl grinst ihm zu.
Der Hund grinst nicht.
19
«Im September zweitausendzwei, ein halbes Jahr später, ging der Baulärm wieder los, und zwar schlimmer denn je. Im Stiegenhaus haben die Arbeiten am Lift begonnen: ein unglaubliches Monstrum von Lift, ein Aufzug wie … in einem Krankenhaus, Sie wissen schon, Bettenstation. Und gleichzeitig ist man oben am Dach darangegangen, den Rohbau wieder abzureißen.»
«Was meinen Sie:
abzureißen
? Das frisch gebaute Dachgeschoss?»
«Lustig, nicht? Ich hab es damals auch nicht glauben können. Bis ich erfahren habe, dass die Ratte den Sommer über versucht hat, einen Käufer für sein Wohnprojekt an Land zu ziehen. Was er dreieinhalb Jahre lang über unseren Köpfen hochgezogen hat, war nichts als ein Lockruf, eine Art … dreidimensionaler Werbekatalog. Da hat er dann seine potenziellen Kunden hinaufgeführt und ihnen gezeigt, wie ihr künftiger Penthousetraum aussehen könnte. Betonung auf
könnte
. Als zum Beispiel irgendeine Aufsichtsratsgattin gemeint hat, dass sie ohne seerosenförmiges Boudoir nicht leben kann, hat sich
Weitere Kostenlose Bücher