Lemmings Zorn
beide beschlossen, sich zur Wehr zu setzen.» Der Lemming hebt den Kopf, blickt zwischen Jandula und Mally hin und her. «Sie haben jemanden damit beauftragt,dem Prantzl und dem Farnleithner einen Denkzettel zu verpassen: einen Mann namens
Alf
. Wann kommt er denn nun endlich, dieser
Alf
?»
Was auf dem Tischtuch nicht zu finden war, auf den Gesichtern Jandulas und Mallys strahlt es dem Lemming jetzt entgegen: Fröhlichkeit. Die beiden brechen unisono in Gelächter aus. Selbst Theodor Nedbals stetiges Grinsen scheint noch um einen Deut breiter zu werden.
«
Alf
», kichert Jandula, «war von Anfang an hier. Verstehen Sie, Herr Wallisch:
Alf
sind wir alle, wie wir da sitzen! Seit gut zwei Jahren treffen wir uns im
Grissini
, wobei die Frau Mally», Jandula streift seine Sitznachbarin mit einem sanften Seitenblick, «erst ein bisserl später zu uns gestoßen ist, als der Terror auch vor ihren Fenstern begonnen hat.»
«Ich hätte ja einen anderen Namen vorgezogen», meint Mally bedauernd. «
OLGA
zum Beispiel:
Ohne Lärm geht’s auch.
Vielleicht auch
LOLA
:
Leben ohne Lärmattacken
. Aber damals hatte
ALF
schon das Rennen gemacht:
Aktion Lärmfrei
, oder
Anti-Lärm-Fraktion
, ganz wie Sie wollen.»
Ein weiterer Gedankenfisch schnellt aus dem trüben Gewässer des Unterbewussten; aufgeweckt, befreit, im wahrsten Sinn des Wortes ausgelassen tanzt er im Licht, das dem Lemming nun aufgeht. Und so, als sei er selbst dieser Fisch, klappt der Lemming nun – ganz in der Art eines Karpfens – den Mund auf und zu.
ALF
: eine Gruppenbezeichnung, ein Akronym, natürlich. So wie etwa das Kürzel
PLO
, das beispielsweise auch
Partie der Lärmopfer
bedeuten könnte …
«In meinem Fall», spricht Mally weiter, «hat sich der Trubel ja gottlob gelegt: Der Farnleithner hat das Handtuch geworfen, und seine Frau scheint sich davor zu hüten, das Kriegsbeil wieder auszugraben. Aber zu unseren Monatstreffen komme ich auch weiterhin. Man wächst ja irgendwie … zusammen mit der Zeit», meint sie jetzt zögernd, wobei sie es sichtlich vermeidet, Klaus Jandula anzusehen.
«Und man weiß ja auch nie, wann es wieder beginnt», beeilt sich dieser zu ergänzen. «Man rechnet ja ständig damit; die Angst wird man nicht wieder los. Es ist eine Folter, die in der Erinnerung weiterwirkt, eine stete Bedrohung, ein ewiges Trauma. Wie eben auch … bei der Frau Lehner.»
Endlich, denkt der Lemming, scheint sich das Gespräch dem entscheidenden Punkt zu nähern. Jenem Punkt, auf den er – den pochenden Schmerzen in seinem Hinterteil trotzend – seit drei Stunden wartet. «Was war mit ihr?», fragt er. «Was war mit der Angela?»
Es ist Josefine Mally, die nun wieder das Wort ergreift. «Die Frau Lehner», sagt sie, «hat vor zirka einem Jahr hierhergefunden. Im vorigen November, um genau zu sein. Sie ist plötzlich an unserem Tisch gesessen, die schweigsame, traurige Angela, gemeinsam mit einem noch stilleren Mann. Dass es ihr Ehemann war, hat sich erst später herausgestellt; erkennen konnte man das nicht, so wie die beiden einander behandelt haben.»
«Warum? Wie haben sie sich denn behandelt?», wirft der Lemming ein.
«Gar nicht. Sie haben kein Wort miteinander gesprochen. Haben sich nicht einmal nebeneinandergesetzt. Das Foto, das Sie gestern dem Herrn Jandula gestohlen … also, das Sie sich ausgeborgt haben, das Foto ist damals entstanden. Haben Sie es mit?»
Der Lemming kramt ein weiteres Mal die Fotografie heraus und legt sie auf den Tisch.
«Da rechts, sehen Sie, der Arm, der ins Bild steht: Das ist Frank Lehner, Angelas Mann. Ich kann nur hoffen, Herr Wallisch, dass sich ihr Bub am Herrn Lehner nicht den Magen verdorben hat. Er ist den ganzen Abend wortlos dagesessen, aber nicht wirklich apathisch, sondern eher wie eine tickende Zeitbombe, wie einer, der sich nur mühsam unter Kontrolle hält. Nach längstens einer Stunde ist er dann wieder aufgebrochen,ohne uns auch nur anzusehen: Gerade, dass ihm zum Abschied ein stummes Nicken ausgekommen ist. ‹Ich bleib noch›, hat die Angela gemurmelt, obwohl er sie gar nicht gefragt hat, ob sie ihn etwa begleiten will. Das war der einzige Satz, der zwischen den beiden gefallen ist.»
Nachdenklich streicht der Lemming über den ausgefransten Rand der Fotografie. «Frank Lehner also … War er beim nächsten Treffen wieder dabei?»
Mally schüttelt den Kopf. «Es war das einzige Mal, wir haben ihn nie mehr gesehen. Im Gegensatz zur Angela: Sie ist von da an
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