Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky

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ganz wie man’s nimmt. Jedenfalls ist er absolut sicher, dass sich die Frau Lehner selbst …»
    «Ich weiß: Der geniale Herr Bezirksinspektor tippt auf Suizid», fällt der Lemming dem Alten ins Wort. «Wobei: Er tippt nicht nur, er pocht ja förmlich darauf.»
    «Na ja …», wiegt Bernatzky jetzt leise den Kopf hin und her, «von seiner Warte aus … Und, um ganz ehrlich zu sein, auch von meiner, Wallisch, so leid es mir tut. Ich hab beim besten Willen nichts gefunden, was auf Fremdverschulden schließen lässt. Keine Kampfspuren, keine Stiche, keine Schrammen. Ein oral genommenes Pulverl, wie geschaffen, um sich auf möglichst sanfte Art zu entleiben. Dazu noch die zwei verpatzten Versuche, die sie eh schon hinter sich gehabt hat – zumindest hat das der Polivka g’sagt. Wie kommst du eigentlich darauf, dass es kein Selbstmord war?»
    «Der Ben war bei ihr. Sie hat in der Nacht auf ihn aufgepasst.»
    «Das ist allerdings prekär.» Bernatzky runzelt die Stirn.
    «Und sie hat noch etwas zu erledigen gehabt. Etwas, das ihr sehr wichtig war.»
    «Da hätt sie aber dazuschauen müssen, deine Frau Lehner.»
    «Was meinen Sie: dazuschauen?»
    Statt auf die Frage zu antworten, setzt der Professor nun seinen rundlichen Leib in Bewegung: Er wendet sich ab und beginnt, gemächlich zwischen Tisch und Buggy auf und ab zu gehen. Vier Schritte hin, vier zurück, die Hände auf dem Rücken und die ohnehin schon zerknitterte Stirn in noch tiefere Falten gelegt.
    «Was soll das heißen, Professor: dazuschauen?»
    Der Alte bleibt stehen. «Wenn du wüsstest, wie deine Frau Lehner beinand’ war, tätst du vielleicht auch an einen Selbstmord glauben, Wallisch. Sie hätt’s nicht mehr lange gemacht, vielleicht ein paar Wochen: qualvolle, grauenhafte Wochen. Es sei denn, sie hätt’ das Glück gehabt, dass ihr marodes Herz vor ihrem ramponierten Magen kollabiert.»
    Ein leises, schmatzendes Geräusch vom Kinderwagen her: Benjamin saugt drei-, viermal an seinem Schnuller, räkelt sich mit einem kurzen Seufzen, schläft dann weiter. Der Lemming aber steht da wie vom Schlag gerührt.
    «Erstens, Wallisch: Magenkrebs. Ein Karzinom, in etwa halb so groß wie der Kopf von deinem Buben. Außerdem inoperabel, weil metastasiert. Um es laienhaft auszudrücken: Der Hummer hat kleine Garnelen losgeschickt, um die entlegensten Körperregionen deiner Bekannten zu besiedeln.»
    «Freundin», flüstert der Lemming. «Sie war eine Freundin …»
    «Ist ja gut.» Bernatzky tritt näher und nimmt ihn sanft am Arm. «Wenn ich dich so anschau … Ich glaub, wir sollten’s besser sein lassen für heute.»
    «Nein, Professor, es geht schon … Erzählen Sie nur weiter …»
    Nach einem langen und prüfenden Blick schüttelt der Alte den Kopf und hebt resignierend die Hände.
    «Wie du meinst, Wallisch. Schließlich bin ich nur ein Arzt für die Leichen, nicht für die Leichenblassen. Also, was das Herz deiner … Freundin betrifft: fortgeschrittene Arteriosklerose, erheblich verengte Koronargefäße – mehr als ungewöhnlich für eine Frau dieses Alters. Trotzdem kein arterieller Verschluss und vor allem keine Nekrose, also kein Gewebsuntergang, was mich am Anfang ein bisserl gewundert hat. Gewundert deshalb, weil gewisse histologische Veränderungen ihres Herzmuskels auf einen schweren Vorderwandinfarkt hinweisen, den sie aber definitiv nicht gehabt haben kann, jedenfalls
noch
nicht.»
    «Aha. Und was bedeutet das jetzt?»
    «Dass sie die besten Chancen auf einen raschen Herztod g’habt hätt, die Frau Lehner. Doppelte Chancen, wie wenn du beim Roulette auf Schwarz und Rot gleichzeitig setzt: Einerseits der drohende Infarkt, andererseits eine Kardiomyopathie… Entschuldige, Wallisch, ich vergess immer, dass du mich nicht verstehen kannst. Eine Erkrankung des Herzmuskels ist das. In diesem Fall eine seltene, die weder prä- noch postmortal sehr leicht zu diagnostizieren ist.» Professor Bernatzky kann es nicht lassen, das Renommieren. Mit erhobenem Zeigefinger steht er jetzt da und wirft sein Licht so raffiniert auf Angelas Gebrechen, dass der Glanz auf ihn selbst, den Beleuchter, zurückfällt. «Tako-Tsubo-Kardiomyopathie», sagt er stolz. «So heißt diese Krankheit: Die Herzspitze hört plötzlich zu arbeiten auf; sie hängt dann nur noch da wie ein schlaffer Sack, wohingegen die Basis ungestört weiterpumpt. Das ist zwar meistens nur vorübergehend, aber manchmal auch tödlich. Interessanterweise sind fast immer