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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Frauen vom Broken-Heart-Syndrom betroffen.»
    «Vom   … Broken-Heart-Syndrom?»
    «Gebrochenes Herz, so sagt man auf Deutsch, aber das wirst du ja hoffentlich wissen. Tako-Tsubo tritt meistens nach traumatischen Erlebnissen auf, weshalb man auch annimmt, dass es durch einen gehörigen Schub an Katecholaminen ausgelöst wird. Nein, das ist jetzt nichts Christliches, sondern bezeichnet die Gruppe der Stresshormone: Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin. Eine entsprechende Überproduktion tät im Übrigen zur ganzen Anamnese von der Frau Lehner passen: Wenn du ständig Katecholamine ausschüttest, steigen auch die Blutfettwerte, und was ein hoher Cholesterinspiegel bewirken kann, das wissen wir ja.»
    «Arteriosklerose.»
    «Bravo, Wallisch, gut gelernt. Vielleicht willst ja mein Nachfolger werden.»
    «Ich hoffe, Sie werden so bald keinen Nachfolger brauchen, Professor.»
    «Danke, das ist lieb von dir. Aber zurück zum Sujet: Wenn die Dame so unter seelischem Druck war, dann ist auch ihr Magenkrebs kein Mirakel. Weißt, mit dem Verdauungstrakt istnicht zu spaßen: Eine stressinduzierte Gastritis lasst sich auch nicht ewig sekkieren. Zuerst wird sie chronisch und irgendwann kanzerogen. Wenn sich der Mensch nicht gegen seine Nerven wehrt, dann wehren sich halt die Nerven gegen ihren Menschen.» Bernatzky verstummt und krault einmal mehr seinen Bart.
    «Und weiter?», fragt der Lemming.
    «Nix weiter. Bis auf den Tumor, die Metastasen und das moribunde Herz war die Frau Lehner pumperlg’sund. Abgesehen davon, dass ja die Roulettekugel weder auf Schwarz noch auf Rot g’fallen ist, sondern ganz frech auf die Null.» Wie um das Ende seiner medizinischen Erörterung zu unterstreichen, verschränkt Bernatzky die Arme vor der Brust. «Jetzt bist du an der Reihe», sagt er zum Lemming.
    «Ich? Wieso ich?»
    «Weil unsereins auch noch im Alter ein bisserl Bestätigung braucht; könnt ja immerhin sein, dass ich im Unrecht bin mit meinen Hypothesen. Aber wenn du so gut mit der Toten warst, weißt du vielleicht, was sie derart verdrossen hat.»
    «Sie hat   … ein Kind verloren.»
    «Aha.» Der Alte brummt zufrieden.
    «Und sie dürfte schon vorher unter gewissen   … Dingen gelitten haben.»
    «Unter Dingen, soso. Profunde Diagnose, Herr Kollege.»
    «Sie war, wie soll ich sagen   … Sie war Mitglied einer Gruppe. Einer Selbsthilfegruppe, genauer gesagt.»
    Diesmal klingt das Brummen eher mürrisch als zufrieden. «Komm schon, Wallisch», grollt Bernatzky ungehalten, «lass dir doch nicht alles aus der Nasen ziehen.»
    «Also gut: Es ging dabei um   … Lärm.»
    «Na und?» Der Alte schenkt dem Lemming einen amüsierten Blick. «Find’st du das ’leicht blamabel? Hast du Angst, dass ich jetzt despektierlich mit den Augen roll und mir im Stillen denk: Der Wallisch ist ein ahnungsloser Idiot, der glaubt imErnst, dass Lärmbelastung einen Menschen töten kann? Im Gegenteil, Wallisch, im Gegenteil. Zweihunderttausend Tote jährlich, sagt die Weltgesundheitsorganisation. Nicht dass man denen trauen sollt: Wahrscheinlich sind’s viel mehr, die jedes Jahr am Lärm krepieren, nur dass halt solche Zahlen alles andere als opportun sind heutzutage.» Bernatzky breitet theatralisch die Arme aus: eine Geste, die dem Lemming wohlvertraut ist, pflegt sie doch eine jener berüchtigten Wortkaskaden einzuläuten, die dem Alten ab und zu entsprudeln. Berüchtigt deshalb, weil bei diesen sanguinischen Exkursen Weisheit und Polemik schwer zu unterscheiden sind. «Lärm, Wallisch, ist das billigste Betäubungsmittel, das wir kennen: Jeder kann es selber produzieren, und man kann gleich so viel davon herstellen, dass es für Hunderte andere auch noch reicht. Die suhlen sich dann alle zusammen in ihrer akustischen Jauche, und wenn’s einmal zufällig still ist, kriegen sie einen Schrecken, einen regelrechten Horror Vacui vor der plötzlichen Leere in ihrem Schädel. Weil in der Leere   – Gott behüt – so etwas wie Gedanken aufkommen könnten. Und Gedanken sind ja wohl das Letzte, was wir brauchen können in unserem schillernden westlichen Supermarkt. Wenn ich Kaiser wär, Wallisch, möcht ich mir nur Untergebene wünschen, die von früh bis spät Krach machen. Nur keine Nonkonformisten, nur keine Leute, die sich in Ruhe zurücklehnen, sinnieren und spintisieren und bei einem Glaserl Wein miteinander plauschen wollen. Hedonistische Denker? Das käm bei mir gar nicht in Frage, nein: Der standardisierte Weltbürger denkt nicht, er

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