Lemmings Zorn
lärmt! Weil Lärm ist Dumpfheit, Dumpfheit Gehorsam, Gehorsam Konsum und Konsum wieder Lärm. Ein durch und durch perfekter Kreislauf, wenn da nicht die paar Millionen Anarchisten wären, die noch immer nach geistigen Werten streben. Die gehen dann halt leider an dem ganzen Weltradau zugrunde: Kollateralschaden nennt man das, glaub ich, bei der modernen Soldateska.» Bernatzkyhält inne und holt Luft: Es wirkt fast so, als mache er den ersten Atemzug seit zwei Minuten. Aber schon spricht er weiter, so aufgeregt gestikulierend, dass sein weißer Ärztemantel hüpft und flattert wie ein von Spasmen geschütteltes Burggespenst. «Zweihunderttausend Tote, gut, meinetwegen. Dazu noch die ganzen erwiesenen Leiden: Defekte am Immun-, am Hormon- und am Nervensystem, Anstieg des Blutdrucks, der Herzfrequenz, Nierenschäden und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, wie gesagt. So. Und wo bleibt der Rest? Wo haben die Herren Statistiker den zerstörten Lebenswillen ihrer Probanden vermerkt? Die Depressionen und den seelischen Verfall, die in Brüche gegangenen Beziehungen und Träume? Die Kinder, die geistig verkümmern, weil sie sich auf nichts mehr konzentrieren können? Nein, Wallisch, die Tabellen der Gesundheitsapparatschiks sind genauso lächerlich wie diese technokratischen Versuche, Lärm über die Lautstärke zu definieren. Stell dir vor, dein Nachbar übt ständig Klarinette. Nicht so laut, dass es die gesetzlichen Grenzwerte übersteigt, aber erstens laut genug, dass du’s trotzdem mithören musst, zweitens so kakophon, dass du’s ganz einfach nicht erträgst. Und stell dir jetzt noch dazu vor, du warst einmal Raucher und hast es dir irgendwann abgewöhnt. Was machst du?»
«Ich …»
«Du sagst es. Natürlich, du regst dich derartig auf, dass d’ wieder anfangst mit den Zigaretten. Dass d’ früher oder später eine nach der anderen rauchst vor lauter Ärger. Was ich dir – nebenbei – nicht raten tät. Irgendwann macht dein Herz nicht mehr mit: Du fallst um und bist tot. So weit, so gut. Aber jetzt kommt – ruck, zuck – die Statistik ins Spiel. Was glaubst du, Wallisch, wo sie dich dazuzählen werden, die Buchhalter der WHO? Zu den Rauchtoten oder zu den Lärmtoten? Siehst du. Ganz genau so funktioniert das mit der allgemeinen Grünland- und Gehirnversteppung. Leider hat nämlich der große Robert Koch nicht recht behalten. Derhat’s schon vor hundert Jahren gesagt: ‹Eines Tages›, hat er gesagt, ‹wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest.› Aber nichts ist’s geworden mit dem Bekämpfen. Stattdessen dringt die schöne neue Welt ihren Bewohnern ins Privateste, in die Körper und Köpfe, in den Geist und den Schlaf, um sie für alle Zeiten zu verblöden.» Wieder holt Bernatzky Atem, diesmal aber nicht, um seinen Sermon fortzusetzen: Leise tritt er an den Kinderwagen und betrachtet den schlafenden Ben. Im Blick des Alten liegt auf einmal eine Traurigkeit, die der Lemming nie zuvor bei ihm gesehen hat, eine gänzlich unprofessorale Melancholie. «Weißt, Wallisch», murmelt er jetzt, «ich wohn in Hietzing draußen, in der Stadlergassen, direkt an der Südbahn. Seinerzeit war’s ruhig da draußen, da haben die Kinder den paar Zügen, die vorbeigewackelt sind, noch nachgewunken. Aber bei der heutigen Frequenz, da täten’s eine veritable Sehnenscheidenentzündung riskieren … Also verzeih mir, wenn ich dich … Na, wenn ich mich … erhitzt hab bei dem Thema.»
Für einen Moment herrscht nun Stille im Raum, fast so, als hätte sich ein Engel in die Archive des Todes verirrt. Dann aber bricht der Lemming das seltsam bedrückende Schweigen. «Sie sind ja ohnehin fast nie zu Hause», meint er mit gedämpfter Stimme. «Und hier, bei Ihren Patienten … Einen ruhigeren Ort kann ich mir fast nicht vorstellen.»
Und wieder Stille. Langsam wendet sich Bernatzky um. Er lächelt sanft. «Wie recht du hast, mein Freund. Nach vierundvierzig Jahren könnt man sich schon beinah selbst für einen seiner Patienten halten. Da vergisst man leicht, dass alle Dinge in Bewegung bleiben: Das Leben beginnt und hört auf, beginnt und hört auf. Ohne Beginn tät’s uns nicht geben, ohne Aufhören hätt ich keine Arbeit g’habt. Und irgendwann hört eben auch die Arbeit auf …»
«Wie … Wie meinen Sie das?»
«So, wie ich’s sag, Wallisch, so wie ich’s sag. Ich hab was zu feiern.»
«Sie gehen doch nicht etwa … in Pension?», stößt
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