Lemmings Zorn
abgebrochen. Sie ist eine stolze Frau gewesen. Eine blasse, kranke, würdevolle Frau. Bis Ende Oktober.»
«Oktober?»
«Ja, Oktober. Mittwoch, neunundzwanzigster Oktober zweitausenddrei.»
«Was war an diesem Mittwoch?»
«In der Woche davor sind die beiden mich wieder besuchen gekommen. Da hab ich es endlich geschafft.»
«Geschafft?»
«Ihn zum Lächeln zu bringen. Ich habe die Glasscheibe angehaucht und mit dem Finger daran gerieben. Sie wissen schon, das gibt so ein leises Geräusch, wie eine Katze, die miaut. Der Kleine hat mich fragend angeschaut und – anfangs noch ein bisschen zögerlich, dann immer fester – mit einer Handgegen das Glas geklopft. ‹Noch einmal›, sollte das heißen. Später hat er seine Hand dann auf der Scheibe liegen lassen, und ich habe meine von innen daran gelegt. Da hat er mich angelächelt.»
«Schön …»
«Und nicht nur das. Er hat – ich habe es genau gesehen – mit seinen Lippen ein Wort geformt. Natürlich hat ihm meine Frau das immer wieder vorgesagt, aber an diesem Tag … hat er es nachgesprochen. ‹Papa.› Klar und deutlich. ‹Papa.› Ich hab es gesehen, Sie können mir glauben.»
«Das tu ich ja. Wirklich … Aber der Mittwoch darauf, dieser neunundzwanzigste Oktober: Was ist da …»
«Am dreißigsten habe ich wie jeden Donnerstag darauf gewartet, in den Besucherraum gebracht zu werden. Pünktlich um halb acht hat mich der Wärter abgeholt. Er hat mich aber nicht … Er hat mich in die Direktion geführt. Der Anstaltsleiter hat mir einen Sessel angeboten. Danke, habe ich gesagt, sehr freundlich, aber meine Frau und mein Sohn müssten jeden Moment … Ob’s unter Umständen möglich wäre, dass ich eine halbe Stunde später … Ich solle mich setzen, hat er gesagt. Er müsse mir eine Mitteilung machen.»
«Eine Mitteilung …»
«Eine traurige Mitteilung.»
«Der Kleine …»
«Selbstverständlich würde ich Freigang erhalten, für die Beerdigung …»
«Ich … Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr …»
«Sie wussten es schon, hab ich recht? Wer hat es Ihnen verraten?»
«Nicht Ihre Frau. Kein Wort. Ich hab auch keine Ahnung, was genau … passiert ist damals.»
«Sie hat nie darüber gesprochen. Nur einmal, drei Wochen später bei ihrer Gerichtsverhandlung. Das war auch das erste Mal, dass ich sie wiedergesehen habe.»
«War sie nicht auf dem Begräbnis?»
«Nein. Am Abend davor hat sie versucht, sich zu erhängen. In der Untersuchungshaft. Sie lag auf der Krankenstation.»
«Verstehe … Der Selbstmordversuch …»
«Der erste, ja. Der zweite dann im Jänner.»
«Schlaftabletten. Auch davon hab ich gehört … Und die Verhandlung?»
«Ein Jahr bedingt hat sie bekommen. Wegen Vernachlässigung und fahrlässiger Tötung.»
«Ich meine, was sie da erzählt hat, beim Prozess?»
«Ich … weiß nicht, ob ich das … schaffe. Ob ich das kann.»
«Manchmal hilft es, wenn man … Ach, was red ich da. Sie müssen sich nicht zwingen.»
«Doch. Weil Sie es wissen sollen, alles wissen sollen. Weil ich diese beschissenen Schlüssel haben will.»
«Herr Ober … Zwei noch, bitte …»
«Also … Oben im Dachgeschoss hat man sich damit vergnügt, die nagelneuen Böden wieder rauszureißen: Kanadischer Ahorn war dem Meraner nicht mehr gut genug, seit ihm die Ratte eingeredet hatte, dass ein Mann von Welt ohne französisches Sternparkett nicht existieren kann. Hämmern und Stemmen, Sägen und Bohren von früh bis spät – ich hab es damals im Knast mit Sicherheit ruhiger gehabt. Meine Frau hat nach wie vor das Haus gemieden, wann immer sie konnte. Hat sich mit dem Kleinen in Museen und Parks herumgetrieben, je nach Wetterlage und … Gesundheitszustand. Dass sie körperlich völlig am Ende war, kurz vor dem Kollaps, hab nicht einmal ich erkannt. Aber rückblickend kein Wunder: In der Nacht hat sie der Bub auf Trab gehalten, wie das nun eben bei hungrigen Babys so ist, und tagsüber war sie auf Achse, auf der Flucht vor dem eigenen Heim, vor der eigenen Hölle. An diesem Mittwoch, diesem neunundzwanzigsten Oktober, war es dann so weit: Die Batterien waren leer; sie konnte ganz einfach nicht mehr. Eine weitere unruhige Nacht – der Kleinewar erst gegen drei Uhr morgens eingeschlafen –, und dann, um sieben, der Ansturm der Meißel und Sägen. Der Bub ist hochgeschreckt, hat losgebrüllt – er muss geschrien haben wie am Spieß. Und meine Frau … Die hat es gerade
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