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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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noch aus ihrem Bett geschafft. Sie wollte in die Küche, um dem Kleinen seinen Brei zu machen, aber da haben ihr einfach die Beine versagt. Sie strauchelt also, stürzt. Schlägt sich die Knie wund. Sie spürt, wie die Säure aufwallt, überkocht, den Magen und die Kehle überschwemmt: Ihre Gastritis läuft zur Höchstform auf. Sie windet sich in Krämpfen, meine Frau, kriegt kaum noch Luft, die Brust wie eingeschnürt, das Herz ein einziges, brennendes Stechen. So liegt sie da und kotzt auf unseren Boden, unseren stinknormalen Eichenboden. Hinter ihr, im Bett, brüllt unser Sohn, und über ihr brüllen die Motorsägen der Ratte. Draußen schüttet es in Strömen. Sie will schlafen. Nur noch schlafen   … Und sie trifft eine Entscheidung: betteln gehen. Zu Kreuze kriechen. Wenn es sein muss, auf blutigen Knien. Sie weiß, die Ratte kommt gegen Mittag ins Haus, um die Baustelle zu inspizieren. Sie rappelt sich irgendwie hoch, versucht, den Kleinen zu beruhigen. Es gelingt ihr nicht; er ist ja selbst total erschöpft. Sie schaukelt ihn in ihren Armen, eine Decke über ihren Kopf gebreitet, um das Getöse der Hämmer zu dämmen. Sie singt, so laut sie kann. Der Kleine brüllt. So wartet sie. Stunde um Stunde. Wartet bis zur Mittagspause. Dann geht sie ins Dachgeschoss hinauf. Die Ratte ist schon da; sie huscht in der Wohnung des Meraners hin und her, kontrolliert, kalkuliert, instruiert die Arbeiter. Meine Frau tritt auf die Ratte zu, mit dem weinenden Buben. ‹Bitte›, sagt sie, ‹bitte, lassen Sie uns schlafen. Wenigstens heute, nur ein paar Stunden, haben Sie Verständnis, ich bitte Sie.› Die Ratte breitet ihre Pfötchen aus; sie grinst mit ihren neuen weißen ungarischen Schneidezähnen. ‹Selbstverständlich›, sagt die Ratte, ‹selbstverständlich, gnädige Frau. Nur müssen Sie mich auch verstehen; ich kann doch meine Leutenicht nach Hause schicken, stellen Sie sich das vor, wer zahlt mir den Verdienstentgang? Aber seien Sie versichert, gnädige Frau, es dauert nicht mehr lange. Höchstens diese Woche noch, dann sind wir fertig.› – ‹Ich bitte Sie›, sagt meine Frau noch einmal. ‹Nur heute, ich flehe Sie an. Mein Sohn   …› – ‹Ein ganz ein Süßer›, unterbricht sie da die Ratte. ‹Ganz die Mama. Und der Papa selbstverständlich. Wie geht es ihm denn, Ihrem Mann?›»
    «Diese Drecksau   …»
    «Der Kleine ist inzwischen eingeschlafen; wenige Minuten Stille haben ihm dafür gereicht. Meine Frau bringt ihn wieder in unsere Wohnung, sie legt ihn aufs Bett, deckt ihn zu, legt sich daneben. Nur kurz die Augen schließen, nur ein bisschen   … Als sie wieder zu sich kommt, ist die Mittagspause vorbei, der Baulärm wieder voll im Gange. Die Wände beben. Anfangs weiß sie gar nicht, wo sie ist: Sie hat ihren Kopf unters Kissen gesteckt. Wie lange hat sie wohl geschlafen? Nein, nicht lange, eineinhalb Stunden vielleicht. Neben ihr rührt sich nichts. Sie wundert sich noch, dass der Kleine bei diesem Radau   … Sie richtet sich auf, sieht hinüber zu ihm. Aber er   … ist nicht mehr da. Er ist weg. Sie springt aus dem Bett, zu Tode erschrocken. Sucht das Zimmer ab, läuft in den Flur, in die Küche, in meinen Arbeitsraum. Sie ruft nach ihm, schreit sich die Seele aus dem Leib. Und dann sieht sie   … den Dampf. Den Dampf, der aus dem Badezimmer kommt. Dort   … Er   … Er muss aufgewacht sein, als der Krach wieder losgegangen ist. Kann sein, dass er wieder geweint hat, aber meine Frau   … Sie hat ihn nicht gehört, sie
konnte
ihn nicht hören. Also ist er aus dem Bett und   … hinüber ins Bad. Wer weiß, vielleicht ist er ja gar nicht gekrabbelt, vielleicht ist er ja gelaufen, das wäre ja möglich, vielleicht waren das seine ersten Schritte, und   … und keiner hat’s gesehen. Er muss irgendwie   … in die Badewanne geklettert sein und angefangen haben, mit den Wasserhähnen zu spielen. Er hat den roten geöffnet. Alles warvoller Dampf. Voller Dampf. Das Wasser ist immer weiter geronnen, aber man konnte es nicht hören. Kein Rauschen. Kein Brüllen und Kreischen. Man konnte es einfach nicht hören. Der Rest war zu laut   …»

24
    Dieses Schweigen. Dieses zähe, dunkle Schweigen, das die beiden nun umhüllt. Der Kellner steht hinter der Theke und wirft betretene Blicke herüber. Schließlich schenkt er ungefragt zwei weitere Gläser Raki ein und bringt sie kommentarlos an den Tisch.
    «Danke   …»
    Dem Lemming ist übel. Selten noch ist ihm so übel gewesen. Mit

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