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Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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verhangenem Blick fixiert er sein Glas, um Frank Lehner nicht ansehen zu müssen. «Ihre Frau», sagt er heiser, «war meiner sehr ähnlich.»
    «Mein Benjamin hat Ihrem auch geähnelt. Obwohl er kein Sinowatz war. Ich hab ihn ja kennengelernt, Ihren Buben.»
    «Draußen am Bruckhaufen, meinen Sie   …»
    «Ja, in der Christnacht. Meine Frau ist wieder hingezogen, noch am Tag ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft. Sie wollte zurück, nein: Sie
musste
. Zurück in die stickige Enge des Elternhauses, dahin, wo man Kind war, wo man noch nicht   … schuldig war. Zu allem Überfluss ist ihre Mutter kollabiert, kaum dass sie von   … von der Sache erfahren hat. Ein Schlaganfall. Auch dafür hat sich meine Frau verantwortlich gefühlt. Und weil die alte Smejkal in den ersten Wochen noch ans Bett gefesselt war, hat Angela ihre Pflege übernommen. Büßen, vergessen, büßen, vergessen. Und möglichst bald sterben. Mehr hat sie sich nicht mehr gewünscht.»
    «Und   … ihr Vater?»
    Frank Lehners Züge verhärten sich. «Ihr Vater? Der hat ihre Schuldgefühle noch geschürt. Er hat kein Wort mit ihr gesprochen,hat sie immer nur schweigend gemustert, mit waidwunden Blicken verfolgt. Ein Flagellant, ein Märtyrer, von Gott mit einer missratenen Tochter gestraft, die ihm den Enkelsohn genommen und die Frau verkrüppelt hatte. ‹Ich glaub, er hält mich für verrückt›, hat sie mir einmal gesagt. ‹Wahrscheinlich hat er ja recht damit   …›»
    «Das heißt   … Sie hatten weiterhin Kontakt?»
    «Sporadisch. Das Haus ihrer Eltern hab ich natürlich gemieden, aber ich wollte ihr trotzdem irgendwie vermitteln, dass ich   … dass ich ihr keine Vorwürfe mache. Dass ich mir dessen bewusst bin, wer uns allesamt vernichtet hat. Ich wollte, dass sie das weiß, und dann   …»
    «Und dann?»
    Frank Lehner zuckt die Achseln. Beugt sich vor und zieht die letzte Zigarette aus der Packung. «Dann? Mir war nicht wirklich klar, was dann. Im Grunde sind mir nur zwei Möglichkeiten eingefallen: meinem Vater folgen, mich erhängen oder besser noch zu Tode saufen, irgendwo im Ausland, in Paris zum Beispiel, so wie Joseph Roth. Ein durchaus würdiger Abgang für einen Schriftsteller, aber   … ich war ja kein Schriftsteller mehr   …»
    «Und die andere Möglichkeit?»
    «Zuerst die Ratte vernichten. Sie auslöschen, ausmerzen. Und mich erst danach zu Tode saufen   … Herr Ober! Bringen S’ uns bitte noch zwei   …»
    «Und eine Schachtel Gauloises», fügt der Lemming nach kurzem Zögern hinzu. Similia similibus curantur: Manchmal muss man die Übelkeit mit ihren eigenen Waffen bekämpfen. «Aber Sie haben weder das eine noch das andere getan», meint er dann, wieder an Lehner gewandt.
    «Es ist wie ein   … hirnlabyrinthischer Hindernislauf. Ich meine, jemanden umbringen wollen. Immer, wenn du dich dazu entschlossen hast, beginnt sich dein Gedankenkarussell von neuem um sich selbst zu drehen: Wird es mich wirklicherleichtern, wenn ich den Mörder ermorde? Kann ich die nagende Sehnsucht, die wühlenden Schmerzen auf diese Art lindern? Kann ich
so
Frieden finden? Glauben Sie, das funktioniert ?»
    «Bei einem, der zu Skrupeln neigt, wahrscheinlich nicht», murmelt der Lemming. Für einen Moment tauchen Bilder des gestrigen Abends vor seinem inneren Auge auf: Prantzl, gefesselt und schwitzend, Prantzl, gezeichnet von Todesangst.
    «Wahrscheinlich nicht», bestätigt Frank Lehner. «Aber das Dreckschwein am Leben zu lassen, war auch keine Alternative, ganz egal, ob ich mich nachher selbst   … empfehlen würde oder weiter dahinvegetieren. Man sollte seine Angelegenheiten ordnen, auch wenn man sie anschließend hinter sich lässt. Und eine Welt, in der die Ratte unbehelligt weiterlebt, kann keine geordnete Welt sein.»
    «Also doch ein Mord.»
    «Aber sicher! Und wieder zurück an den Start; die geistige Achterbahn setzt sich aufs Neue in Bewegung   …»
    «Wie hat die Angela   … Wie hat Ihre Frau darüber gedacht?» «Sie war genauso hilflos wie ich, gefangen im Zirkelschluss zwischen dem Töten, dem Sterben, dem Leben. Bei ihr kam das schlechte Gewissen dazu; ich habe sie nicht davon abbringen können, dass sie die Schuld trägt – zumindest die Mitschuld – an Benjamins Tod   …»
    «Und
Sie
haben keine Schuldgefühle gehabt?» Wie von selbst ist die Frage über die Lippen des Lemming gekommen. Lippen, die er nun hastig zusammenpresst, als ließen die Worte sich rasch noch verschlucken. Aber zu spät:

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