Lemmings Zorn
Mit traurigen Augen sieht Lehner ihn an.
«Ich auch. Glauben Sie mir, ich auch. Wenn ich damals nicht … Vielleicht wäre dann …» Frank Lehners Stimme bricht. Er senkt den Kopf und räuspert sich. «Das Recht sagt, dass wir beide schuldig sind. Und
nur
wir. Niemand sonst. Kein Tag, an dem ich mir die Frage nicht gestellt habe, ob es nicht dochvielleicht recht hat, das Recht. Kein Abend und kein Morgen: Da war es am schlimmsten. Weil ich jeden Morgen mit Benjamin aufgewacht bin. Ich tu es noch immer: Er ist in meinen Träumen, er krabbelt und jauchzt durch die zwei oder drei Stunden Schlaf, die mich irgendwann finden. Und bevor ich noch die Augen öffne, während ich noch seinen Atem spüre, schießt es mir siedendheiß ein … Und wieder diese Frage nach dem Recht. Und wieder und wieder und wieder.»
«Es ist nicht Ihre Schuld.»
«Das haben Angela und ich einander auch versichert. Aber es hat nicht geholfen: Schwerverbrecher pflegen einander ja auch mit Alibis zu versorgen … Im November hat mir meine Frau dann einen Vorschlag gemacht. Sie wollte eine Art Selbsthilfegruppe besuchen, von der sie gehört hatte …»
«Die Alf.»
«Genau. Ein Sammelsurium erbärmlicher Gestalten, eine Runde von Jammerlappen und Klageweibern, die den eigenen Opfermythos pflegen, ohne auch nur ansatzweise in Betracht zu ziehen, dass sie sich ja auch … zur Wehr setzen könnten. Mir war dieses Treffen ein Gräuel, schon vorher. Ich hatte keine Lust, mir diese mitleidheischenden Geschichten anzuhören. Aber bitte, ich bin mitgegangen, nur um meine Erwartungen vollauf bestätigt zu finden. Zweimal war ich dort …»
«Zweimal?»
«Das erste und das letzte Mal. Im Gegensatz zu Angela. Sie hat gehofft, die eigenen Qualen lindern zu können, indem sie sich die Leiden der anderen anhört. Lächerlich. Das habe ich ihr auch gesagt. ‹Du kannst es nicht relativieren›, habe ich gesagt. ‹Du kannst nicht relativieren, dass unser Benjamin gestorben ist. Nein, dass er elend verreckt ist, verbrüht bei lebendigem Leibe, erstickt und ersoffen, und dass er nie wiederkommt, nie! Ich lasse mir das nicht verharmlosen!› Frank Lehners Faust kracht auf den Tisch; die Gläser klirren. DerKellner sieht wieder herüber, wiegt skeptisch den Kopf hin und her. Greift dann kurz entschlossen zur Rakiflasche.
«Das haben Sie ihr … gesagt?»
«Verzeihen Sie. Ich wollte nicht …» Frank Lehners große Augen, die eben noch wütend aus ihren Höhlen getreten sind, ziehen sich wieder zurück: nur ein kurzer Moment, aber lange genug, um dem Lemming in Erinnerung zu rufen, dass in jedem Erich Kästner auch ein Peter Lorre steckt. «Ich wollte nicht», sagt Lehner jetzt noch einmal. «Und nein, ich habe es ihr nicht gesagt, ich habe es ihr ins Gesicht geschrien.»
«War das zufällig … im Jänner?»
«Richtig kombiniert. Am selben Tag hat Angela ihren zweiten Selbstmordversuch unternommen.»
«Tut mir leid. Ich wollte auch nicht …»
«Nein, Herr Wallisch. Kein Pardon mehr. Keine Gnade. Lassen Sie uns Ordnung machen.»
«Also gut. Wie ging es weiter?»
«Mit dem Abbruch der Beziehungen. Mehrere Wochen lang hab ich erfolglos versucht, sie zu erreichen. Ich wollte, dass sie mir vergibt; in diesem Fall war es ja … unbestreitbar meine Schuld. Nachdem sie aber nie ans Telefon gegangen ist, hab ich es schließlich aufgegeben. Hab meine Sachen gepackt und mich auf den Weg gemacht.»
«Wohin?»
«Ich weiß es nicht mehr so genau. Nach Norden jedenfalls. Natürlich war ich auch in Hamburg. Eine fremde Stadt, die mich an nichts, an gar nichts mehr erinnert hat. Dann weiter durch Dänemark, Schweden … bis hinauf zum Nordkap. Dort ist es mir endlich klargeworden.»
«Klargeworden? Was?»
«Warum ich zögere. Warum ich mich nicht traue, meinen Sohn zu rächen. Das Gewissen? Scheiß drauf, scheiß auf das Gewissen. Scheiß auf diese abgeschmackten Winkelzügemeines Hirns, das mir moralische Bedenken vorgaukeln will. Nein, nein, es war die Angst, die nackte Angst, die mich daran gehindert hat, zu tun, was zu tun war. Eine Heidenangst davor, zu scheitern, dieser verschlagenen, schmierigen Mistsau noch einmal zu unterliegen. Mordversuch? Wissen Sie, was auf Mordversuch steht?»
«Das Gleiche wie auf Mord. Zehn Jahre mindestens.»
«Begreifen Sie jetzt?
Ein
Anlauf, nur ein einziger. Keine zweite Chance. Ich hab mich vor dem Misserfolg gefürchtet. Vor nichts anderem …» Frank Lehner senkt den Blick und
Weitere Kostenlose Bücher