Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lemmings Zorn

Lemmings Zorn

Titel: Lemmings Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
offenbar nicht weniger erschrocken waren als ich selbst.»
    «Da haben Sie recht. Mit einem Unterschied:
Sie
wussten, wer da plötzlich vor Ihnen steht.»
    «Ich hab es zumindest vermutet. Die Angela hatte mir ja gesagt, dass Sie Ihren Kleinen bald abholen würden. Trotzdem war es nicht der rechte Zeitpunkt, Ihnen   … meine Aufwartung zu machen. Darum hab ich auch den Rückzug angetreten. Bin um die andere Seite des Hauses und wieder hinaus auf die Straße, um nach einer Telefonzelle zu suchen. Ich musste wissen, was los ist. Ob alles in Ordnung ist mit meiner Frau und dem Buben. Ich habe keine gefunden. Also zurück in die Sandrockgasse   … Und dann   … Dann ist auch schon die Polizei gekommen. Und wenig später die Leichenträger. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja   …»
    «Den kenn ich», bestätigt der Lemming gedankenverloren. «Den kenn ich   … Eines leuchtet mir trotzdem nicht ein: Waswollen Sie mit den Schlüsseln, wenn Sie gar nicht wissen, welche Tür Sie damit aufsperren sollen?»
    «Sie hüten», gibt Frank Lehner scharf zurück. «Sie hüten wie mein Augenlicht, bis ich herausgefunden habe, wo sich Angelas Strafraum befindet. Ich muss sichergehen, dass mir kein anderer zuvorkommt. Weil die Ratte mir gehört. Mir ganz allein, verstehen Sie das nicht?»
    Oh doch, der Lemming versteht. Und wie er versteht. Frank Lehners Erzählung hat ihn im Innersten erschüttert, hat seine Sinnesart, sein ohnehin schon angekratztes Ethos vollends auf den Kopf gestellt. Ja, er begreift jetzt, dass Mordlust nicht immer aus loderndem Jähzorn entspringen muss, so wie am gestrigen Abend bei seiner Attacke auf Prantzl. Er kann ihn nachvollziehen, diesen wohlüberlegten, beharrlichen Wunsch, einen Menschen zu töten, diesen endlos tiefen, kalten Hass im verwüsteten Herzen des Zwischenkriegsmanns.
    Er kann ihn verstehen.
    Und trotzdem hält ihn etwas davon ab, Lehner die Schlüssel zu geben. Etwas Stilles und Sanftes und Trauriges: die Erinnerung an einen Engel.
    «Angela war anderer Meinung», sagt der Lemming.
    «Angela ist aber tot», erwidert Frank Lehner. «Und ich bin ihr einziger Erbe. Dass ich ihren Nachlass auf meine persönliche Weise   … verwalten will, das müssen Sie mir schon zugestehen, Herr Wallisch. Oder erwarten Sie etwa von mir, dass ich es mache wie sie? Das ich die Ratte umhege und pflege, dem Schwein seinen Futtertrog fülle, mit kulinarischen Schmankerln aus der Provence und ganzen Wagenladungen
Château Lafite

    «Was? Was haben Sie da gesagt?» Diesmal ist es der Lemming, der mit aufgerissenen Augen in die Höhe schnellt. «
Château Lafite
! Mein Gott, das Heft!» Hastig greift er nun zu seinem Mantel, der über der Sessellehne hängt, und beginnt,dessen Innentaschen zu durchwühlen. «Ich glaube, ich weiß, was das für ein Raum ist, Herr Lehner! Die Angela hat ihn beschrieben!» Schon hat er das rote Schulheft aufgeschlagen, legt es triumphierend auf den Tisch. «
Château Lafite
, das hat sie sich auch notiert. Und dann die zwei Namen:
Bauser Ferdi
und
Besi Mimi
. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer das sein könnte?» 
    Erwartungsvoll beugt sich Frank Lehner über das Heft, nur um es gleich wieder von sich zu schieben: «Das war ihre Art, sich Notizen zu machen», sagt er enttäuscht. «Eine Mischung aus Verschlüsselung und Kurzschrift. Sie hat einfach die Worte abgekürzt, manchmal auch mehrere zu einem zusammengefasst. Sehen Sie, hier:
Besi
heißt Besichtigung und
Mimi
Mittwochmittag. Sie wissen schon: die übliche Baustellenbegehung der Ratte. Am vorigen Mittwoch hat Angela zugeschlagen, schließlich hatte sie ja freie Bahn:
Ferdi
, also Ferienbeginn am Dienstag. Die Arbeiter waren bereits auf Urlaub, die
Bauser
war verwaist: High Noon, ein Duell ohne Zeugen.»
    «Ja, aber   … Was bedeutet dieses
Bauser
?», fragt der Lemming verwirrt.
    «Baustelle Servitengasse. Eines der Zinshäuser, die sich die Ratte gekauft hat. Dort wird – selbstverständlich! – auch schon seit Jahren das Dach ausgebaut.»
    Was jetzt durch die trübe Gedankensuppe des Lemming driftet, ist durchaus kein glitzernder Fisch. Ein Krake schon eher, vielleicht eine Qualle: ein dunkles, amorphes Gebilde, das hässliche Schlieren durchs Hirnplasma zieht.
    «Und wo ist nun der Hinweis auf den Strafraum?», unterbricht Frank Lehner das verborgene, weil gleichsam submarine Schauspiel.
    «Da! Da steht es doch!» Der Lemming deutet mit dem Finger auf Angelas Notizen. «
Hangar
hat sie geschrieben! Ein

Weitere Kostenlose Bücher